Donnerstag, 7. April 2011

Gülen als Pädagoge und religiöser Lehrer

Geschrieben von Thomas Michel, Georgetown University 

Es waren Anhänger der Bewegung um Fethullah Gülen, die mir die Erziehungsinstitutionen, die von ihnen geleitet werden, erstmals vorstellten. Sie bewogen michauch, Gülens Schriften zu lesen; denn ich wollte das Grundprinzip entdecken, das hinter diesem pädagogischen Experiment steht, welches der pädagogischen Vision Fethullah Gülens und seiner Kollegen entspringt.

Zunächst einmal möchte ich auf die Verbindung Herrn Gülens zu diesen Schulen eingehen, die oft ,Gülen-Schulen' oder ,Schulen der Gülen-Bewegung' genannt werden. Herr Gülen bezeichnet sich selbst als Erzieher. Allerdings unterscheidet er sehr sorgfältig zwischen Erziehung und Lehre. „Die meisten Menschen können Lehrer sein, sagt er, „während die Anzahl der Erzieher sehr begrenzt ist."1

Gülen versucht auch richtig zu stellen, dass er selbst keine Schulen betreibt. „Ich bin es leid, ständig versichern zu müssen, dass ich keine einzige Schule führe", betont er mit einigem Überdruss in der Stimme.2 Die Schulen wurden mit Hilfe individueller Vereinbarungen zwischen den Ländern, in denen sie betrieben werden, und den pädagogischen Unternehmen, die eigens zu diesem Zweck gegründet wurden, errichtet. Jede einzelne Schule stellt eine autonome Institution dar. Doch die meisten dieser Schulen vertrauen auf Serviceleistungen türkischer Unternehmen, die pädagogische Hilfsmittel und Lehrer bereitstellen.

Meine erste Begegnung mit einer dieser Schulen geht auf das Jahr 1995 zurück, als man mir in Zamboanga auf der südlichen philippinischen Insel Mindanao erzählte, einige Meilen außerhalb der Stadt gebe es eine ,türkische' Schule. Als ich michdieser Schule näherte, fiel mir als Erstes das große Schild am Eingangstor des Grundstücks auf, auf dem geschrieben stand: „Philippinisch-Türkische Schule der Toleranz". Dies ist eine verblüffende Aussage in Zamboanga, einer Stadt mit ca. 50% christlichem und 50% muslimischem Bevölkerungsanteil, die in einer Region, liegt, in der unterschiedliche Moro-(muslimische) Separatistenbewegungen über 20 Jahre lang das Militär der Philippinen bekämpfte. In dieser Region, in der Geiselnahmen, Guerillakrieg, Beutezüge, Verhaftungen, das Verschwinden von Menschen und Morde durch militärische und para-militärische Kräfte auf der Tagesordnung stehen, bietet diese Schule muslimischen und christlichen philippinischen Kindern nicht nur eine qualitativ gute Ausbildung, sondern darüber hinaus auch einen positiven Weg, zu leben und mit anderen Menschen zu kommunizieren. Meine Kollegen, die Jesuiten, und die Laienprofessoren am Ateneo de Zamboanga bestätigten mir, dass die ,Philippinisch-Türkische Schule der Toleranz' einen intensiven Kontakt zu christlichen Institutionen in der Region unterhält und gut mit ihnen kooperiert.

Seit damals hatte ich die Gelegenheit, auch andere Schulen dieser Art zu besuchen und mit den Lehrern und dem Verwaltungspersonal über pädagogische Themen zu diskutieren. Die Stärke ihrer Programme in den Bereichen Wissenschaft, Informatik und Sprache schlägt sich in häufigen Erfolgen in akademischen Olympiaden nieder. In einer Aufbauschule in Bischkek (Kirgisien) unterhielt ich micheine halbe Stunde lang mit einer Gruppe von Schülern der 7. Klasse. Am Ende dieses Gesprächs forderte der Lehrer die Schüler auf, doch diejenigen Betonungen und Vokabeln zu identifizieren, die darauf hinwiesen, dass ich eher ein amerikanisches als ein britisches Englisch spreche. Zu meinem Erstaunen fiel das den Schülern sehr leicht.
Ich hätte erwartet, auf mehr islamische Beiträge zum Curriculum zu stoßen und dem Islam auch physisch in der Schule häufiger zu begegnen, was jedoch nicht der Fall war. Als ich mich nach diesem überraschenden Fehlen dessen, was für mich ein verständlicher Bestandteil eines religiös inspirierten Bildungsprojekt gewesen wäre, erkundigte, sagte man mir, dass man auf Grund der unterschiedlichen Herkunft der Schüler (Christen und Muslime auf den Philippinen bzw. Buddhisten, Hindus, Christen und Muslime in Kirgisien) danach strebe, universelle Werte wie Ehrenhaftigkeit, harte Arbeit, Harmonie und bewussten Einsatz zu vermitteln. Daher verzichte man auf konfessionelle Unterweisung.

Jene Zusammentreffen veranlassten mich, die Schriften Fethullah Gülens mit dem Ziel zu studieren, die pädagogischen Prinzipien und die Motivation zu ermitteln, die hinter den Schulen stehen. Außerdem bemühte ich mich darum, etwas über die Methoden Gülens in Erfahrung zu bringen, die ihn zu einem Erzieher gemacht haben, der andere mit seiner Vision inspiriert.

Die pädagogische Vision Fethullah Gülens

In den Jahrzehnten, die der Gründung der Türkischen Republik folgten, haben viele Türken das von der Regierung initiierte ,Modernisierungsprogramm' dafür kritisiert, dass es blind sowohl die positiven als auch die negativen Seiten der europäischen Zivilisation übernehme. Ihrer Meinung nach stellt die Säkularisierung nicht nur ein ungewolltes Nebenprodukt des Modernisierungsprozesses dar, sondern das ganz bewusst angestrebte Ziel einer anti-religiösen Haltung. Sie machen geltend, dass hinter den Reformen die unausgesprochene Vermutung - gleichzeitig eine ideologische Überzeugung - stecke, die Religion behindere den Fortschritt und müsse aus der öffentlichen Sphäre von Gesellschaft, Ökonomie und Politik verbannt werden, damit sich die Nation weiterentwickeln könne. In den Jahrzehnten nach der Gründung der Republik formierten sich die Schlachtlinien, beflügelt auch durch die miteinander wetteifernden unterschiedlichen Schulsysteme, und machten die Religion-Säkularisierungs-Kampagne in der Türkei zu einer Auseinandersetzung, in der von jedem Denker erwartet wird, dass er Position bezieht.

Einer der Gründe, weshalb Fethullah Gülen so oft von den ,Linken' wie auch von den ,Rechten', von den ,Säkularen' ebenso wie von den ,Religiösen' attackiert wurde, ist meiner Ansicht nach, dass er es stets abgelehnt hat, sich bei eben diesem Thema, das er für irrelevant hält, auf irgendeine Seite zu schlagen. Stattdessen bietet er uns einen zukunftsorientierten Ansatz, mit dem er hofft, die leidige Debatte zu überwinden. Gülens Lösung besteht darin, das von der Türkischen Republik ausgegebene Ziel der Modernisierung zu bestätigen, dabei jedoch zu zeigen, dass ein wirklich effizienter Modernisierungsprozess die Entwicklung des ganzen Menschen mit einschließen muss. In pädagogischen Begriffen gesprochen müsse ein solcher Prozess die Hauptinteressen der unterschiedlichen Strömungen auf dem Bildungssektor aufnehmen und aus ihnen einen neuen Erziehungsstil weben, der Antworten auf die veränderten Anforderungen der Welt von heute geben kann.

Dieser Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von reaktionären Projekten, deren Ziel es ist, die Vergangenheit wiederzubeleben. Gülen bestreitet energisch, dass das Bildungsangebot der Schulen, die mit seinem Namen verknüpft werden, beabsichtige, das osmanische System zu restaurieren oder das Kalifat wiedereinzusetzen. Wiederholt betont er: „Wenn eine Anpassung an neue Begebenheiten nicht stattfindet, wird das Ergebnis der Untergang sein."3
Auch wenn er die Notwendigkeit einer Modernisierung sieht, hält Gülen den radikalen Bruch mit der Vergangenheit für riskant. Junge Menschen, die den traditionellen Werten entfremdet sind, laufen Gefahr, abgesehen vom materiellen Erfolg ganz ohne irgendwelche Werte aufzuwachsen. Nicht-materielle Werte wie Tiefgründigkeit und Klarheit des Denkens, Tiefe der Gefühle, kulturelle Aufgeschlossenheit oder Interesse an der Spiritualität werden in den modernen Bildungsinstitutionen, die vor allem den globalen Markt bedienen sollen, oft vernachlässigt.4

Absolventen dieser Schulen mögen zwar darauf vorbereitet sein, sich einen Job zu suchen; sie besitzen aber nicht die innere Stärke, die wahre Freiheit zu finden. Führende Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik begünstigen und propagieren nicht selten eine ,wertfreie' Erziehung, denn diese erlaubt den Mächtigen, eine qualifizierte, aber nicht wirklich ausgebildete Arbeiterschaft zu kontrollieren. Gülen behauptet, dass jemand, der die Massen unter Kontrolle halten will, diese lediglich auf dem Gebiet des Wissens auszuhungern braucht. Die Massen können der Tyrannei nur durch Bildung entkommen. Die Straße zu sozialer Gerechtigkeit ist mit einer angemessenen universellen Erziehung geebnet; denn nur sie verschafft den Menschen das nötige Verständnis und die Toleranz, die Rechte anderer zu respektieren.5

Nach Auffassung Gülens verhindert das Fehlen einer vielseitigen Ausbildung nicht nur die Schaffung von Gerechtigkeit, sondern auch die Anerkennung der Menschenrechte und die Etablierung einer von Akzeptanz und Toleranz geprägten Geisteshaltung. Wenn Menschen dazu erzogen werden, für sich selbst zu denken und für positive Werte wie soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Toleranz einzutreten, wird es ihnen gelingen, zu Repräsentanten des Wandels zu werden und jenen segensreichen Zielen zum Durchbruch zu verhelfen.

Wenn bildungspolitische Reformen verwirklicht werden sollen, ist die Schulung der Lehrer ein Thema, das nicht vernachlässigt werden darf. Gülen hält fest: „Erziehung ist nicht gleich bedeutend mit Unterricht. Die meisten Menschen können Lehrer sein, während die Anzahl der Erzieher sehr begrenzt ist."6 Der Unterschied zwischen ihnen liegt darin, dass sie zwar beide Informationen übermitteln und lehren, dass der Erzieher aber derjenige ist, der die Fähigkeit besitzt, die Persönlichkeit der Schüler auszubilden. Er protegiert ihr Denken und ihr Reflexionsvermögen, formt ihren Charakter und bringt ihnen bei, sich ein gewisses Maß an Selbstdisziplin und Toleranz sowie einen Sinn für ihre Aufgabe anzueignen. Gülen beschreibt Menschen, die nur lehren, um ein Gehalt zu beziehen, und die kein Interesse daran haben, den Charakter ihrer Schüler zu formen, als Blinde, die Blinde führen.

Der Mangel an jeder Koordination oder Integration in Erziehungssystemen, die miteinander wetteifern und konkurrieren, ließ etwas auf den Plan treten, das Gülen „...einen bitteren Kampf..." nennt, „...der niemals hätte stattfinden dürfen: Wissenschaft gegen Religion"7. Diese falsche Dichotomie, die während des 19. und 20. Jahrhunderts die Energien von Gelehrten, Politikern und religiösen Führern auf beiden Seiten der Debatte strapazierte, führte zu einer Zweiteilung der Erziehungsmethoden und -philosophien. Die modernen säkularen Pädagogen betrachteten die Religion bestenfalls als nutzlose Zeitverschwendung und schlimmstenfalls als ein Handikap auf dem Weg zum Fortschritt. Unter den religiösen Gelehrten führte diese Debatte zu einer Ablehnung der Moderne und zur Entstehung einer Religion, die „..eher eine politische Ideologie war als eine Religion in ihrem wahren Sinn und ihrer wahren Funktion."8 Gülen spürt, dass der schon so lange andauernde Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft durch einen pädagogischen Prozess, in dem religiöse Gelehrte einen angemessenen Anteil an den Wissenschaften haben und die Wissenschaftler mit religiösen und spirituellen Werten in Berührung kommen, beendet werden kann bzw. dass zumindest die Absurdität dieses Konflikts enttarnt wird.9

Gülen glaubt jedoch, dass dies nur dann geschehen kann, wenn ein neuer Erziehungsstil geprägt wird - ein Erziehungsstil, „...der religiöse und wissenschaftliche Erkenntnisse mit Moral und Spiritualität verbindet und wirklich aufgeklärte Menschen mit einem Herzen hervorbringt, das von den religiösen Wissenschaften und der Spiritualität erleuchtet wird, und einem Verstand, der im Lichte der positiven Wissenschaften glänzt." Diese aufgeklärten neuen Menschen werden, so Gülen, in Übereinstimmung mit den menschlichen Qualitäten und Werten leben. „Sie werden sowohl die sozio-ökonomischen als auch die politischen Verhältnisse ihrer Zeit genau kennen."10

In Gülens Schriften zum Thema Pädagogik tauchen einige Begriffe immer wieder auf: An erster Stelle: ,Spiritualität' und ,spirituelle Werte'. Manche mögen diese Begriffe für Codewörter halten, deren Sinn darin liegt, die Benutzung des Wortes ,Religion' zu vermeiden und so dem Vorurteil gegenüber der Religion in den modernen säkularen Gesellschaften aus dem Weg zu gehen. Doch Gülen benutzt diese beiden Begriffe eindeutig in einem weiteren Sinne. Für ihn umfasst die Spiritualität nicht nur bestimmte religiöse Lehren, sondern auch Ethik, Logik, psychische Gesundheit und liebevolle Offenherzigkeit. Schlüsselbegriffe in seinen Schriften sind ,Mitgefühl' und ,Toleranz'. Die Aufgabe der Pädagogik besteht seiner Meinung nach darin, diese nicht quantitativ bestimmbaren Qualitäten ebenso zu vermitteln, wie die ,exakten' Wissenschaften zu lehren.

Aber auch andere Begriffe, die Gülen häufig verwendet, verdienen es, näher erläutert werden: Er spricht oft von ,kulturellen und traditionellen Werten'.11 Sein Aufruf zur Einbindung kultureller und traditioneller Werte in die Erziehung wurde von Kritikern als ein reaktionärer Appell zur Rückkehr in die prä-osmanische Gesellschaft interpretiert. Gülen wurde daraufhin angeklagt, ein Irticaci zu sein, was im türkischen Kontext mit ,Reaktionär' oder sogar ,Fundamentalist' übersetzt werden kann. Dieser Anschuldigung hat sich Gülen jedoch immer widersetzt. Um seine Position zu verteidigen, sagte er: „Das Wort Irtica bedeutet ,Rückkehr in die Vergangenheit' oder ,Verlagerung der Vergangenheit in die Zukunft'. Ich aber bin ein Mensch, dessen Ziel das Morgen, ja sogar die Ewigkeit ist. Ich mache mir Gedanken über die Zukunft unseres Landes und versuche, alles in meiner Macht Stehende zu tun. Weder in meinen Schriften und Reden noch in meinen Handlungen habe ich jemals irgendeinen Schritt unternommen, mein Land in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Andererseits hat aber auch niemand das Recht, den Glauben an Gott, Anbetung, moralische Werte und Themen, denen die Zeit keine Grenzen setzt, als Irtica zu bezeichnen."12

Wenn Gülen für kulturelle und traditionelle Werte wirbt, scheint er die Vergangenheit der Türkei als einen langen und langsamen Prozess der Anhäufung von Weisheit zu betrachten. Ihm zufolge hat diese Vergangenheit auch den heute lebenden Menschen viel zu geben. Auch besitze sie für die Bedürfnisse der modernen Gesellschaften nach wie vor Relevanz. Auf Grund der in ihr geballten Weisheit darf sie nicht in Vergessenheit geraten. Andererseits hält Gülen aber jeden Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren, für kurzsichtig und für zum Scheitern verurteilt. Während er alle Bemühungen, mit der Vergangenheit zu brechen, verurteilt, weist er auch alle Bestrebungen zurück, eine vor-moderne Gesellschaft wiederzubeleben oder neu zu errichten.

Die bei manchen Reformern feststellbare Tendenz, die Ketten der Vergangenheit aufzubrechen, hält Gülen für ein zweischneidiges Schwert. Natürlich sollten bestimmte Elemente des Erbes, die gewalttätig waren oder zur Erhaltung des Status Quo beigetragen haben, und solche, die ihren ursprünglichen Sinn und ihre frühere Bedeutung verloren haben, ersetzt werden. Aber andere, befreiende und menschliche, Elemente sollten gefestigt werden, wenn neue Generationen wirklich in die Lage versetzt werden sollen, eine bessere Zukunft aufzubauen. Gülens Denken beschränkt sich eindeutig nicht auf interne Debatten um politische Richtungen in der Türkei oder um die Gesellschaften der islamischen Staaten. Seine pädagogische Version schließt alle Gesellschaften „auf der ganzen Welt" mit ein. Er möchte Reformer ausbilden, d.h., Menschen, die ihre Kraft aus einem Wertesystem beziehen, dass sowohl die physischen als auch die nicht-materiellen Aspekte des Menschseins berücksichtigt. Gülen erklärt: „Diejenigen, die die Welt reformieren wollen, müssen sich zunächst selbst reformieren. Um andere auf den Weg in einen bessere Welt zu bringen, müssen sie ihre inneren Welten von Hass, Groll und Neid befreien und ihre innere Welt mit allen Arten von Tugenden schmücken. Jene, die weit entfernt davon sind, Selbstkontrolle und -disziplin auszuüben und die es nicht geschafft haben, ihre Gefühle zu läutern, mögen auf den ersten Blick attraktiv sein und Einsicht besitzen. Doch es wird ihnen nicht gelingen, andere auf längere Sicht zu inspirieren. Die Empfindungen, die sie wecken, werden schnell wieder verschwinden.13

Fethullah Gülen, der Lehrer des Islam

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht der Erzieher Fethullah Gülen. Seine Rolle als religiöser Gelehrter und Lehrer ist zwar ein Thema, das eine genauso sorgfältige Prüfung verlangt wie das Studium seines religiösen Denkens als moderner Interpret des Islam. Doch im Rahmen dieses Beitrags kann es kaum hinreichend behandelt werden. Nichtsdestotrotz bliebe eine Analyse seiner pädagogischen Vision ohne einen kurzen Blick auf seine Schriften über den Islam unvollständig.

Einige der über 30 Bücher Gülens sind Zusammenstellungen von Gesprächen und Reden, die er irgendwann einmal vor Studenten und Anhängern gehalten hat. Andere geben Antworten auf Fragen, die ihm von Studenten gestellt wurden. Die Themen erstrecken sich vom Studium der Biografie des Propheten Muhammad über eine Einführung in den Sufismus und eine Abhandlung über Fragen, die traditionell in der Wissenschaft des Kalam aufgeworfen werden, bis hin zur Erörterung essenzieller Fragen zum islamischen Glauben. All diese Studien wenden sich nicht an Spezialisten, sondern an eine Zuhörerschaft, die aus durchschnittlich gebildeten Muslimen besteht.

Was lässt sich über Fethullah Gülens persönlichen Ansatz zur Interpretation der islamischen Quellen und Traditionen sagen? Was dem Leser als Erstes auffällt, ist seine Betonung von Moral und moralischen Werten. Man meint, diese seien ihm für den religiösen Elan, der seine Inspiration aus dem Koran bezieht, wichtiger als die rituelle Praxis. Während Gülen die Bedeutung des Rituals unterstreicht, vertritt er die Auffassung, die ethische Aufrichtigkeit liege direkt am Herzen des religiösen Impulses. Er sagt: „Die Moral ist die Essenz der Religion; sie bildet einen ganz wesentlichen Teil der Botschaft Gottes. Wenn es heldenhaft ist, tugendhaft zu sein und sich moralisch zu verhalten - und das ist es! -, dann sind die größten Helden die Propheten, gefolgt von jenen, die ihnen aufrichtig und ergeben folgen. Ein wahrer Muslim ist ein Mensch, der eine wirklich universelle und deshalb muslimische Moral praktiziert."

Er stützt diesen Punkt, indem er folgenden Hadith Muhammads zitiert: „Der Islam ist aus guter Moral gemacht; ich bin gesandt worden, um die guten Sitten zu vervollkommnen und zu vervollständigen."14
Die unterschiedlichen Aspekte des islamischen Way of Life sollen zusammenwirken, um das ehrenhafte, ethisch rechtschaffene Individuum hervorzubringen. In diesem weiten Sinne des Begriffes Islam oder der Widmung des eigenen Lebens der Sache Gottes ist es legitim zu sagen, dass die Schulen, die von der Bewegung, welche man mit dem Namen Fethullah Gülen assoziiert, gegründet wurden, ihre Inspiration aus einer ethischen Vision beziehen, die zwar fest im Islam verwurzelt, aber in ihren Ausdrucksformen nicht auf die Mitglieder der Umma beschränkt ist.

Wenn Gülen davon spricht, Studenten auszubilden, „...die sich für ein Leben im Einklang mit menschlichen Qualitäten und moralischen Werten engagieren, ...die ihre Außenwelt mit allen möglichen Tugenden schmücken...", dann tritt er ein für einen universellen ethischen Code, den er als Muslim vom Islam erfahren hat. Es steht außer Frage, dass er diese Tugenden, menschlichen Qualitäten und moralischen Werte nicht als exklusiven Besitz der Muslime betrachtet; denn nicht-muslimische Schüler sind in den Schulen willkommen, und es wird auch kein Versuch unternommen, jemanden zu bekehren.

Die Religion des Islam wird daher verstanden als „...der Weg, der den Menschen zur Vollkommenheit führt und ihn dazu befähigt, seinen ursprünglichen engelgleichen Zustand zurück zu erlangen."15 Wenn der Islam als ein Weg zur moralischen Vollkommenheit beschrieben wird, dann ist der Tasawwuf, der Sufismus, eine natürliche und zwingende Entwicklung innerhalb der islamischen Tradition. Gülen schlägt eine ethische Definition des Sufismus vor. Der Sufismus sei ein „...fortdauerndes Bestreben, alle fehlerhaften Grundsätze und schlechten Verhaltensweisen über Bord zu werfen und sich stattdessen gute Eigenschaften anzueignen."16
Gülen lobt die Sufis in der islamischen Geschichte als spirituelle Führer, die Generationen von Muslimen gezeigt haben, wie sie diesem Weg zur menschlichen Vollkommenheit folgen können.

Eine so positive Lesart der mystischen Sufitradition musste fast zwangsläufig zu Anschuldigungen führen, er habe in seiner Bewegung eine Art neo-sufistischer Bruderschaft ins Leben gerufen. Während Gülen verneint, jemals Mitglied einer Bruderschaft gewesen zu sein, geschweige denn seine eigene Bruderschaft gegründet zu haben, versichert er, die Verurteilung des Sufismus, der spirituellen Dimension des Islam, sei gleich bedeutend mit der Ablehnung des ganzen islamischen Glaubens. Er stellt fest: „Unzählige Male habe ich klargestellt, dass ich kein Mitglied eines religiösen Ordens bin. Selbstverständlich betont der Islam als eine Religion die spirituelle Sphäre. Die Schulung des Egos ist ein Basisprinzip des Islam. Askese, Frömmigkeit, Güte und Aufrichtigkeit sind essenzielle Bestandteile dieser Religion. Die Disziplin, die in der Geschichte auf diese Dinge den größten Wert gelegt hat, war der Sufismus. Ihn zu bekämpfen, hieße, die Essenz des Islam zu bekämpfen. Aber ich wiederhole es noch einmal: Weder habe ich jemals einem Sufiorden angehört, noch habe ich jemals Beziehungen zu einem dieser Orden unterhalten."17

Dr. Thomas Michel ist Generalsekretär des Sekretariats für interreligiösen Dialog im Vatikan. Diesen Aufsatz präsentierte er auf dem ,F. Gülen Symposium' der Georgetown University im April 2001.

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1 Gülen, Fethullah; Perlen der Weisheit; erscheint demnächst im Inid-Verlag
2 Webb, Emily Lynn; Fethullah Gülen: Is There More to Him Than Meets the Eye?; S. 106
3 Webb; Fethullah Gülen; S. 86
4 Gülen, Fethullah; Perlen der Weisheit
5 Fethullah Gülen: A Voice of Compassion, Love, Understanding and Dialogue. Introduction to M. Fethullah Gülen; in: The Necessity of Interfaith Dialogue: A Muslim Approach (präsentiert vor dem Parlament der Weltreligionen, Cape Town, Südafrika, 1.-8. Dezember 1999)
6 Gülen, Fethullah; Perlen der Weisheit
7 The Necessity of Interfaith Dialogue; S. 39
8 The Necessity of Interfaith Dialogue; S. 20
9 The Necessity of Interfaith Dialogue; S. 39
10 The Necessity of Interfaith Dialogue; S. 39
11 Der Vermittlung kultureller Werte wird zu wenig Beachtung geschenkt, obwohl sie für die Erziehung doch so wichtig ist. Wenn es uns eines Tage gelingt, ihr die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, haben wir ein bedeutendes Ziel erreicht. (aus: G,en, Fethullah; Perlen der Weisheit)
12 Webb; Fethullah Gülen; S. 95
13 The Necessity of Interfaith Dialogue; S. 39
14 Gülen, Fethullah; Perlen der Weisheit
15 Gülen, Fethullah; Das unendliche Licht 2; erscheint demnächst im Inid-Verlag Hamm
16 Gülen, Fethullah; Sufismus; Inid-Verlag Hamm 2003; S. 13
17 Webb; Fethullah Gülen; S. 102-103

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Kaufmann mit Kerze - Gülens Bewegung: Kann sich der Islam modernisieren?

gulen1Wer ist der wahre Repräsentant des Christentums, Franz von Assisi oder der Inquisitor Torquemada? Spricht sich sein Geist mehr in der Herrschsucht seiner mittelalterlichen Päpste aus oder in der Demut von Mutter Teresa? Darauf ist nur die Antwort möglich: Sowohl als auch und je nachdem. Es wäre jedenfalls nicht gerechtfertigt, einzelne der vielfältigen Phänomene, die unter dem Banner des Christentums laufen, weil sie einem nicht in den Kram passen, von der Betrachtung auszuschließen und ihnen die Zugehörigkeit abzuerkennen. Das Christentum hat in den vergangenen beiden Jahrtausenden das Beste und das Schlimmste der westlichen Welt hervorgebracht oder mindestens begleitet, es ist ein Globus, der sich zwischen den Polen der Liebe und des Hasses dreht, mit einem weiten Äquator des Pragmatismus in der Mitte.

Man tut gut daran, sich zu erinnern, wie es mit dieser historischen Heimat des Westens steht (die unsere bleibt, auch wenn wir uns weit davon entfernt haben), sobald wir es mit der großen Schwesterreligion des Islam zu tun bekommen. Wer ist der wahre Muslim - der Fundamentalist, welcher bomben und steinigen will - der weise, aufgeschlossene Kalif - der sich dem mystischen Tanz ergebende Derwisch? Auch hier muss gelten: nicht einer, sondern alle drei. Freilich ist die bange Frage, wer davon letztlich die Oberhand gewinnen wird, für den Westen eine wichtige und legitime: Denn mit dem Islam wird er es, so oder so, auf die Dauer zu tun haben, im Inneren als einer bedeutenden Minderheit, im Äußeren als seinem Nachbarn, dessen Bezirk sich entlang der Süd- und Ostflanke Europas über Tausende von Kilometern erstreckt.

Darum verdient die Gülen-Bewegung unsere besondere Aufmerksamkeit. Benannt ist sie nach Fethullah Gülen, einem türkischen Prediger und Intellektuellen (man weiß gar nicht recht, als was man ihn bezeichnen soll, denn dieser Typ von Meinungsführer existiert bei uns nicht), der mit seinen Reden und Büchern Millionen vor allem türkischer Muslime beeinflusst. Seiner Gefolgschaft hat er keine feste organisatorische Form gegeben, weiß er doch, dass diese durch äußeren Zugriff, den sie fürchten muss, leicht zu zerbrechen wäre; die Gruppen und Gemeinden, die sich auf ihn berufen, operieren auf eigene Hand, stehen aber in enger Verbindung. Gülen selbst, dem Sympathien seitens der gegenwärtigen türkischen Regierung von Tayyip Erdogan nachgesagt werden, der sich aber in einem gespannten Verhältnis zur alten kemalistisch-laizistischen Staatsräson der Türkei befindet, lebt heute in den Vereinigten Staaten, aus Gesundheitsgründen, wie es heißt, doch wohl auch, um die Konflikte in dem sich rasch und ruckhaft transformierenden Land nicht unnötig anzuheizen.

Zu besonderer Kraft ist die Gülen-Bewegung gerade in Deutschland erwachsen, wo sie Dutzende Schulen und Hunderte von Nachhilfe-Zentren betreibt. In letzter Zeit hat sie vermehrt versucht, sich der allgemeinen Öffentlichkeit bemerkbar zu machen, nicht zuletzt durch zwei Kongresse, die dieses Jahr in München und Potsdam stattgefunden haben. Der Tagungsband der Potsdamer Veranstaltung ist soeben erschienen, und zwar im katholischen Herder-Verlag ('Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen.' Hrsg. von Walter Homolka u. a. Herder Verlag, Freiburg, Basel und Wien 2010, 258 Seiten, 11,95 Euro). Schon der Publikationsort macht deutlich, dass die Bewegung sich nicht abschottet, sondern auf Öffnung zu anderen Religionen und Anschauungen setzt. Wer sich einen Einblick in dieses erstaunlich breite und starke Phänomen verschaffen will, erhält hier die willkommene Gelegenheit.

Das Vorwort beginnt: 'Eine friedliche Koexistenz von Menschen, insbesondere auch von Muslimen und Nichtmuslimen, setzt das Zueinander von Kulturen und Religionen voraus.' Auf diesen Ton bleibt der gesamte Band gestimmt. Der einführende Text von Bekim Agai gibt sich alle erdenkliche Mühe, die Aktivitäten der Bewegung transparent für ein größeres Publikum darzustellen, vor allem, um sie gegen die feindseligen Klischees, die in Bezug auf den Islam und die Muslime hierzulande zunehmend herrschen, abzusetzen. Die Gülen-Bewegung, wie er sie zeichnet, ist konservativ in ihrer Herkunft aus traditionellen islamischen Werten, individualistisch in der Art ihres Wirkens, diskret im Auftreten, tolerant in den Außenverhältnissen und realistisch in den Zielen. Kein Satz findet sich so häufig in dem Band wie das Zitat von Fethullah Gülen, besser als über die Dunkelheit zu klagen sei es, eine Kerze anzuzünden. Baut keine Moscheen, davon haben wir genug, baut Schulen! Das scheint das zentrale Anliegen der Bewegung. Denn allein durch Bildung und den ökonomisch-sozialen Aufstieg, den sie verheißt, hat der Islam eine Chance, von der beargwöhnten Peripherie ins Zentrum der Gesellschaften zu gelangen und sich dort zu bewähren.

Als 'transnationalen Lokalpatriotismus' bezeichnet Ercan Karakoyun die Strategie der Bewegung: Nur durch Teilhabe vor Ort könne es gelingen, den bislang mangelhaft eingebundenen muslimischen Bevölkerungsteil dauerhaft zu integrieren. Mit jener Deutlichkeit, die Thilo Sarrazin so gern vermisst, sagt der Referent: 'Der Staat ist nicht ein Feind, sondern die Heimat, in der man lebt. Die Demokratie ist nicht ein System, das gestürzt werden muss, sondern die sich vielfach bewährende Regierungsform. Terror und Gewalt sind keine Grundzüge des Islam, sondern diesen entgegengesetzt. Bin Laden ist kein Held, sondern ein Verbrecher.' Durch zwei Arten von Trägern hat sich der Islam über die Welt verbreitet: den Krieger im Heeresverband und den Kaufmann als Einzelperson. Die Gülen-Bewegung setzt klar auf den Kaufmann.



Fethullah Gülen selbst kommt mit einem kleinen Text zu Wort, fast versteckt gegen Ende des Buchs; aber man merkt sofort, dass er ein wenig anders klingt als das, was seine Jünger sagen. Diese sind voll des Eifers, die Vereinbarkeit der Lehre ihres Meisters mit der modernen westlichen Welt darzutun. Er selbst drückt sich zurückhaltender aus: 'Die Demokratie sollte den Horizont der Menschen erweitern. Sie sollte auch das Leben nach dem Tode in Betracht ziehen und nicht vergessen, dass der Mensch ein Geschöpf mit Bedürfnissen ist, die nicht mit seinem Tod enden. Wenn ihr dies gelingt, wird sie in ein Stadium der Reife eintreten, in dem die ganze Menschheit glücklicher sein wird als in der Gegenwart.'

Wie soll die Demokratie das anstellen, das Leben nach dem Tod in Betracht ziehen? Darüber schweigt sich Gülen aus; aber daran, dass sie nicht das letzte Wort behalten kann und sich der Transzendenz unterzuordnen hat, bleibt wenig Zweifel. Solche Äußerungen haben den Verdacht befördert, Gülen und die Seinen hätten neben ihren offenkundigen aufgeklärten Zielen noch eine zweite 'hidden agenda', in Wahrheit nahe sich im Schafspelz des Brückenschlages der Wolf der Theokratie.

So denkt die Angst. In Wahrheit dürfte es sich so verhalten, dass der Islam, oder gewisse Spielarten davon, den westlichen Gesellschaften gefährlich geworden ist nur nach Maßgabe seiner Schwäche. Schwach ist der Terrorist, der durch punktuelle Überraschung wettmachen will, was ihm an Einfluss in der Fläche fehlt; schwach sind die Mitglieder der abgekapselten und verschleierten Parallelgesellschaft, die sich ein Leben außer im Kokon nicht vorstellen können. Es hilft auch nichts, den Schwachen gewaltsam zwingen zu wollen, wie die eklatant fehlgeschlagenen Kriege in Irak und Afghanistan beweisen: Er weicht dem Druck gerade kraft seiner Schwäche aus. Im Umgang mit dem Islam hat der Westen nur eine realistische Hoffnung: dass jener aus eigener Anstrengung erstarken möge. Das kann nach Lage der Dinge nur durch nachholende Modernisierung geschehen. Die Gülen-Bewegung ist die wohl wirkungsmächtigste geistige Strömung in der Türkei der Gegenwart; und gerade dort hat dieser Prozess inzwischen machtvoller eingesetzt als in allen anderen vom Islam geprägten Ländern. Dieser Umstand, wenn schon kein anderer Grund, sollte dazu ermutigen, ihr das Vertrauen, um das sie bittet, behutsam zu gewähren.

BURKHARD MÜLLER
Quelle: Süddeutsche Zeitung

Nr.283, Dienstag, den 07. Dezember 2010 , Seite 13 
 
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Interview mit Prof. Dr. Helen Rose Ebaugh über die Gülen-Bewegung

Helen_Rose_EbaughProf. Dr. Helen Rose Ebaugh, eine der renommiertesten US-Soziologen sprach im Zuge der Erscheinung ihres Buches „Die Gülen-Bewegung“ zu ZAMAN. In ihrem nach fünfjähriger Recherche erschienenen Buch analysiert Ebaugh die Gülen-Bewegung.

Ebaugh, Professorin an der University of Houston in den USA, lernte die Bewegung fast zeitgleich mit den Angriffen vom 11. September 2001 kennen. Ebaugh: „In diesen Tagen suchten meine Augen Muslime, die den Terror missbilligen.“ Zwei Tage nach den Anschlägen habe sie in der Washington Post eine ganzseitige Anzeige von Fethullah Gülen gesehen, der den Terror tadelte. Daraufhin habe Prof. Ebaugh sich entschieden, die Bewegung genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Erste, was ihr auffiel: „die Bildungsaktivitäten und der interreligiöse Dialog. Denn nach den Anschlägen vom 11. September erschienen mir diese Aktivitäten als ein ‚Gegengift‘ gegen die im Westen zu wachsen drohende Islamophobie. Die Gülen-Bewegung fordert diese heraus.“ Ebaugh recherchiert seit Längerem über Gruppen aus allen Religionen, die im sozialen Dienst interreligiös zusammenarbeiten. Kurz nach den Anschlägen auf die US-Twin Towers habe sie muslimische Studenten kennengelernt, die an ihren Universitäten den Master anstreben. 2006 entschied sie sich schließlich, die Gülen-Bewegung fünf Jahre lang genauer unter die Lupe zu nehmen. Um Antworten auf ihre Fragen zu finden, recherchierte sie in der Türkei, in Brüssel, Aserbaidschan, Frankreich, Holland sowie Australien und sprach mit Hunderten von Freiwilligen der Bewegung. Ihr Fazit: „In einer Zeit und Welt, in der der Islam mit Zurückgebliebenheit und fehlender Bildung identifiziert wird, hat Fethullah Gülen gezeigt, dass Muslime den Islam leben und gleichzeitig gebildet, modern, der Wissenschaft zugeneigt sein können. ZAMAN sprach mit der US-Soziologin über ihr neues Buch mit weiteren Studienergebnissen.

Wie war Ihr Blick auf den Islam vor dem 11. September?
Vor den Angriffen lehrte ich Religionssoziologie. Während der Angriffe befand ich mich gerade in einer Vorlesung. Ich sagte zu meinen Studierenden: „Seht euch diese Angriffe gut an, denn die Welt wird nicht mehr so sein, wie sie einmal war. Macht euch auch bewusst, dass manche von nun an die Muslime beschuldigen werden. Doch dieser Angriff repräsentiert nicht alle Muslime.“
Zu Beginn liefert Ihr Buch eine kurze Zusammenfassung der Geschichte der Türkei. Welche Dynamik war Ihrer Meinung nach Auslöser der Gülen-Bewegung?
Es war ein Reifungsprozess nötig, damit die Bewegung beginnen konnte. Dieser bestand darin, dass Strömungen wie Marxismus oder Feminismus in der Türkei ankamen und die Jugend faszinierten. Das Gefühl der Gefahr, die von diesen Strömungen ausging, hat Gülen in Bewegung gesetzt. Auch das Volk machte sich Sorgen um seine Jugend. Es wartete auf etwas Neues und Anderes. Offen gesagt, waren die 60er Jahre der richtige Zeitpunkt für die Entstehung der Gülen-Bewegung.

Haben Sie Fethullah Gülen persönlich kennengelernt?
Ich hatte einige Male die Gelegenheit dazu. Habe jedoch keine angenommen. Ich bin eine Soziologin und möchte die Fakten mittels wissenschaftlicher Methoden untersuchen. Diesem Prinzip bleibe ich treu. Ich möchte nicht in eine Lage kommen, in der ich nicht das sagen kann, was ich sehe. Hätte ich Gülen kennengelernt, hätte man gesagt: „Sie schreibt das, was er sagt.“ Daher sind mir Distanz und Sachlichkeit äußerst wichtig. Mein Buch ist deswegen auch in einem akademisch orientierten Verlag erschienen.

Und haben Sie Gülen je zugehört oder eines seiner Bücher gelesen?
Eher nicht, da das meiste auf Türkisch vorliegt. Auch seine Bücher habe ich nicht wirklich gelesen, denn ich befasse mich eher mit dem, was seine Ideen im Leben der Menschen bewirken.
Sie beschreiben in diesem Buch auch die Finanzquellen der Bewegung. Ihre Ergebnisse zeigen, dass vom Arbeiter bis zum Geschäftsmann jeder etwas beiträgt.

Was ist Ihrer Meinung nach der Motor, der die Menschen dieser Bewegung zum Geben motiviert?
Neben den Almosen oder der sozialen Abgabe zakat sind türkische Werte wie Gastfreundschaft oder Nachbarschaftshilfe in die islamischen Werte eingegangen. Weiters sind auch Gespräche ein wichtiger Faktor. Denn die Menschen finden sich in einem Netzwerk wieder, in dem geteilt wird. So entwickelt sich bei jedem das Bedürfnis zu helfen. Durch diese Gespräche empfinden die Menschen weiters ein Gefühl der Zugehörigkeit und Freundschaft, man ist gemeinsam auf dem Weg. Teil dieser Bewegung zu sein, hat für sie den Wert einer Belohnung.

Wir lesen in Ihrem Buch, dass Sie mal mit einer Arbeitergruppe in Bursa, mal mit Geschäftsleuten sprachen. Gibt es eine Geschichte, die Sie im Zuge dieser Gespräche gehört, jedoch nicht in Ihrem Buch erwähnt haben?
Die Geschichten der Arbeiter haben mich sehr berührt. Zum Beispiel verliert einer seine Arbeit und kann die Bewegung finanziell nicht mehr unterstützen. Daraufhin entschließt er sich, freiwillig in einer der Schulen zu arbeiten, ganz nach dem Motto: „Wenn ich schon nicht finanziell helfen kann, dann gebe ich eben von meiner Zeit.“ Ein Arzt, der im Sema-Krankenhaus arbeitet, spendet 40 Prozent seines Jahreseinkommens und sagt: „Gäbe es diese Einrichtungen nicht, wäre ich heute kein Arzt.“ Er ist verheiratet, hat vier Kinder und ist sichtlich sehr glücklich.
Es wird klar, dass Sie sehr viel Zeit mit den Freiwilligen der Bildungseinrichtungen verbracht haben, die das Rückgrat der Gülen-Bewegung bilden. Was sind Ihrer Meinung nach ihre Charaktereigenschaften?
Ein Gefühl der Verschriebenheit. Diese Menschen haben sich dem Glauben und den Werten der Bewegung verschrieben und sind bereit, sich selbst aufzugeben auf dem Weg zu diesen Zielen.

Welche Rolle haben die Frauen in der Gülen-Bewegung?
Das ist ein sehr komplexes Thema, das gesondert behandelt werden muss. Es gibt Frauen auf wichtigen Posten, aber es ist nicht ausreichend viele. Die Gründe dafür sind einerseits kulturelle Werte und andererseits die Tatsache, dass viele Frauen der englischen Sprache nicht ausreichend mächtig sind. In den Ländern, die ich besucht habe, gab es noch bis vor ein paar Jahren weniger Frauen auf in den ersten Reihen. Doch die Zeiten ändern sich, und in manchen europäischen Ländern sind die Frauen heute sehr aktiv. Ich denke, das wird auch so weitergehen.

Sie haben auch Schulen in vielen Ländern besucht. Was ist Ihnen am meisten aufgefallen?
Obwohl die meisten Schulen in Ortschaften liegen, in denen eher Minderheiten leben, schicken auch wohlhabende Bürger, die sich die Schulgebühren leisten können, ihre Kinder in diese Bildungseinrichtungen. Ich habe selbst erlebt, wie hochrangige Bürokraten des aserbeidschanischen Präsidialamtes Schlange stehen, um ihre Kinder in diese Schulen einschreiben zu können. Denn diese Schulen bieten eine sehr gute Bildung. Ich glaube daran, dass Schüler, die im Osten und Südosten der Türkei diese Schulen besuchen, der PKK nicht beitreten werden.

Menschen, die die Bewegung unterstützen, nennen sie die „Freiwilligen-Bewegung“. Wie würden Sie sie beschreiben?
Ich nenne sie eine zivile Bewegung. Sie leistet einen Beitrag zur Gesellschaft und streben kein bestimmtes politisches Ziel an. Sie versuchen lediglich eine Welt zu schaffen, in der die Menschen besser leben können. Ich mag den Namen hizmet (dt.: „Dienst“). Herr Gülen verwendet ihn auch oft. Dies ist eine Bewegung, in der Menschen anderen Menschen dienen.

Leistet sie einen Beitrag zum Weltfrieden?
Klar, einen großen sogar. Besonders die Journalisten- und Autorenstiftung bietet Plattformen, auf denen der Dialog ermöglicht wird. Diese Türken gründen in den Ländern, in die sie gehen, zunächst Dialogeinrichtungen, welche wiederum zur Friedensentwicklung beitragen.

Sie betonen in Ihrem Buch insbesondere die Transparenz innerhalb der Bewegung. Was sind Ihre Ergebnisse diesbezüglich?
Ich habe im Zuge meiner Recherchen in der Türkei mit jenen Geschäftstreibenden gesprochen, die der Bewegung finanziellen Beistand leisten. Sie haben mich bis zuletzt äußerst offen begrüßt und haben ihre Buchhaltung ohne zu zögern hergezeigt. Die Menschen schauen immer mit einer gewissen Skepsis auf die Gülen-Bewegung. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass sie sehr groß, mächtig und reich ist. Es ist von viel Geld die Rede, doch sollten sie deshalb gleich eine geheime Agenda haben? Ich habe nie diese Erwartungshaltung gehabt und stattdessen dem geglaubt, was ich sah.

Sind Ihnen nach fünfjähriger Recherche noch Fragezeichen bezüglich der Gülen-Bewegung geblieben?
Es sind keinerlei Fragen geblieben. Wenn wir bedenken, dass jeder zehn Prozent seines Einkommens spendet und wenn wir mit Tausenden von Menschen rechnen, kommt ein großer Betrag heraus. Gleichzeitig sind die Einrichtungen von der Art, dass sie sich selbst unterstützen.

Was ist Ihrer Meinung nach der Hauptfaktor für die weltweite Akzeptanz dieser „Freiwilligen-Bewegung“?
Sie werden wegen der guten Sachen und ihrer Gutmütigkeit akzeptiert. Jeder Mensch will, dass junge Menschen ausgebildet werden. Dies ist ein universeller Bedarf und betont die Basiswerte von allen.

Wie bewertet es der Westen, dass die Bewegung so sehr wächst?
Ich denke nicht, dass es Probleme geben wird, solange sie sauber bleibt. Solange sie sich nicht an terroristischen Aktivitäten beteiligt, verrückte Sachen macht oder Fehler begeht, die andere gegen sie benutzen können, wird sie sowohl im Westen als auch auf der ganzen Welt stets positiv wahrgenommen werden.

Kann die Gülen-Bewegung mit ihrer Betonung auf Toleranz und Dialog eine Alternative bei der Suche nach Frieden auf der Welt darstellen?
Amerika hat bis zu den Anschlägen vom 11. September den Islam nicht gekannt. Danach schon, doch dann waren die Muslime gleich Terroristen. Diese Einstellung ist eine Tatsache. Diese Bewegung hat ein großes Potential, die Islamophobie herauszufordern. Ich denke nicht, dass es in Houston Menschen gibt, die gegen die Gülen-Bewegung sind. Wir alle brauchen Engagement für Bildung, Kultur und interreligiösen Dialog. Auch im Abbau von Vorurteilen, denke ich, hat die Bewegung ein großes Potential. Der Kontakt, einander kennenlernen und verstehen, sind für den Abbau von Vorurteilen sehr wichtig. Das ist genau das, was die Gülen-Bewegung tut. Ich gehe zu ihnen nach Hause, sie besuchen wiederum mich. So werden vorhandene Vorurteile abgebaut.

Was sind die Argumente und Ängste der Gegner der Gülen-Bewegung? Und wie sehen Sie diese?
Ich nehme die Sorgen ernst. In gewisser Weise haben sie recht, und ich verstehe sie. Aber das Problem liegt darin, dass ich sage: „Bringt mir Belege, die eure Ängste und Argumente belegen.“ – doch das können sie nicht. Daher liegen die Gründe ihrer Kritik in ihrer Angst und Ideologie. Die Angst, die mich am meisten überrascht, ist die Sorge, dass die Bewegung die Regierung einnehmen wolle und hierfür auf das Militär, auf die Rechtsprechung und die Regierung Einfluss nehmen wolle. Wenn ich diesbezüglich Namen und Belege verlange, heißt es immer: „Das weiß doch jeder.“ Das sind Menschen, die Teil einer Gruppe sind, die genauso denken, wie sie selbst. Die Hälfte der Kritiker kennt niemanden von der Gülen-Bewegung und hat keine Informationen aus erster Hand. 
 
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Im wahren Islam gibt es keinen Terror

Muslime sollten sagen: „Im wahren Islam gibt es keinen Terror.“ Denn im Islam ist das Töten eines Menschen gleich bedeutend mit Kufr (Unglauben). Niemand darf einen Menschen töten. Niemand darf einen Unschuldigen töten, selbst im Krieg ist das verboten. Niemandem steht es zu, zu diesem Thema eine Fatwa [ein Urteil im Islam, das von einem Spezialisten des religiösen Rechts zu einem bestimmten Thema gefällt wird] zu erstellen. Niemand darf sich als Selbstmordattentäter betätigen. Niemandem ist es erlaubt, mit Bomben am Körper in eine Menschenmenge zu stürmen. Völlig unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Menschen in jener Menge verbietet dies die Religion. Selbst im Kriegsfall, wenn auf Besonnenheit keine Rücksicht genommen wird, ist das nicht statthaft. „Tut keinen Kindern und keinen Menschen, die in Kirchen beten, etwas zu Leide“, heißt es. Und dies wurde nicht einmal gesagt, sondern immer und immer wieder. Was unser Meister (der Prophet Muhammad) sagte, wiederholte auch Abu Bakr, und was Abu Bakr sagte, wiederholte auch Umar. Was Umar sagte, wiederholten dann später auch Saladin, Alparslan, Kilicarslan und Fatih [Mehmet der Eroberer]. Als Konstantinopel, das chaotische Zustände erlebte, zu Istanbul wurde, wurde dies beherzigt. Das heißt, dass weder die Griechen den Armeniern etwas antaten noch die Armenier den Griechen. Auch die Muslime taten niemandem etwas zu Leide. Fatih rief den Patriarchen zu sich und übergab ihm den Schlüssel für das Patriarchat. Deshalb wurde nach der Eroberung Istanbuls ein großes Bildnis von Fatih angefertigt und im Patriarchat aufgestellt. Sie [das Patriarchat] erinnern sich voller Respekt an ihn. Heute wird der Islam, der unterschiedliche Gedanken immer toleriert hat, nur unzureichend verstanden - wie so vieles andere auch.


Ich bedaure dies sagen zu müssen, aber in der islamischen Welt haben einige Hodschas und unreife Muslime keine anderen Waffen. Der Islam ist eine gerechte Religion, die auch richtig gelebt werden sollte. Es wäre definitiv falsch, auf dem Weg zum Islam von sinnlosen Ausreden Gebrauch zu machen. Wenn das Ziel, das man verfolgt, ein gerechtes Ziel ist, dann sollten auch die Mittel zur Erreichung dieses Ziels gerecht sein. Aus dieser Perspektive betrachtet kann niemand dadurch ins Paradies eingehen, dass er einen anderen tötet. Kein Muslim kann sagen: „Ich werde einen Menschen töten und dann ins Paradies eingehen.“ Die Akzeptanz des Willens Gottes verdient man sich nicht dadurch, dass man andere Menschen tötet. Zu den wichtigsten Zielen eines Muslims gehört zum Einen, den Willen Gottes zu akzeptieren, und zum Anderen, den allmächtigen Namen Gottes im Universum bekannt zu machen.


Die Regeln des Islam sind eindeutig definiert. Individuen können keinen Krieg erklären. Weder eine Gruppe noch eine Organisation kann einen Krieg erklären, sondern einzig und allein der Staat. Niemand kann einen Krieg erklären, ohne dass ein Präsident oder eine Armee sagt, dass tatsächlich Krieg herrscht. Sonst würde ein relativer Krieg entstehen: Jemand eröffnet eine Kriegsfront, entschuldigen Sie meine Sprache, indem er einige Verbrecher um sich schart. Ein anderer schnappt sich weitere von ihnen. Man nehme nur einmal die Türkei. Dort gibt es Menschen mit einem ausgeprägt starken Willen. Aus deren Meinungsverschiedenheiten heraus ließe sich eine Kriegsfront eröffnen. Jemand könnte sagen: „Ich erkläre dem und dem den Krieg.“ Über einen Menschen, der Christen gegenüber tolerant ist, könnte es heißen: „Er hilft dem Christentum und schwächt den Islam. Ihm sollte der Krieg erklärt werden, und er muss getötet werden“, und dann wird ihm tatsächlich der Krieg erklärt. So einfach ist das aber nicht. Solange der Staat keinen Krieg erklärt, kann auch niemand sonst einen Krieg erklären. Wer es dennoch tut, erklärt keinen Krieg im wahren Sinne, denn er verstößt gegen den Geist des Islam. Die Regeln für Frieden und Krieg im Islam sind fest umrissen.



(Aus dem Buch "Terror und Selbstmordattentate aus islamischer Perspektive, 2006, S. 1")

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Brücke zwischen Tradition und Moderne: Konservative Integration

KOMMENTAR VON ELISABETH KIDERLEN

Elisabeth_KiderlenDie einen warnen vor der Gülen-Bewegung als der "einflussreichsten politisch-religiösen Geheimorganisation in der Türkei", so die Islamkritikerin Necla Kelek. Andere dagegen loben die Bildungseinrichtungen und Schulen dieser muslimischen Bewegung, die insbesondere türkischen Kindern und Jugendlichen einen erfolgreichen Bildungsweg ermöglichen. Die Bewegung wird nach dem muslimischen Prediger und Islamgelehrten Fethullah Gülen benannt, der zurzeit in den USA lebt. Es bejaht die säkulare Gesellschaft und fordert dazu auf, diese mitzugestalten - vor allem aber, in ihr Erfolg zu haben. Das hat Gülen und seine Schulen unter konservativen Muslimen populär gemacht.
Islamische Privatschulen, die von seinen Anhängern betrieben werden, finden sich inzwischen fast überall auf der Welt. Ausgehend von der Türkei, haben sie sich zuerst in den Turkrepubliken der ehemaligen Sowjetunion verbreitet. Und als die türkischen Militärs 1997 mit einem "sanften" Staatsstreich die Regierung des Islamisten Necmettin Erbakan zwang, den religiösen Einfluss im Land zurückzudrängen und Mädchen mit Kopftüchern aus Schulen und Universitäten zu verbannen, wich die Bewegung, gestützt auf die türkische Diaspora, in die USA, nach Australien und Europa aus. Auch in Deutschland wurden seitdem private Grund- und Realschulen sowie Gymnasien, die der Bewegung nahestehen, gegründet.
Englisch- statt Koranunterricht

Die Gülen-Bewegung sei eine "Sekte mit Konzernstrukturen", warnt Necla Kelek. Aber sieht so eine Sekte aus? Die Unterrichtssprache an den Gülen-Schulen ist selbstverständlich Deutsch. In den Gymnasien wird Englisch als erste Fremdsprache angeboten, als zweite Fremdsprache kann Türkisch oder Französisch gewählt werden. Religion wird in den Schulen nicht unterrichtet. Es herrscht eine Atmosphäre, die Lern- und Leistungsbereitschaft fördert. Die überwiegend deutschen Lehrer sind engagiert und können sich in den bislang noch relativ kleinen Klassen um die einzelnen Kinder kümmern.

In Berlin-Spandau zum Beispiel wird das Gülen-Gymnasium von zwei deutschen Frauen geleitet - Frauen in leitenden Funktionen sind in der Gülen-Bewegung überhaupt keine Ausnahme. Auf dem Schulhof sieht man zwar mehr Mädchen mit Kopftuch als ohne, aber Letztere stellen eine starke Minderheit. Besuch von Journalisten und Politikern bekommt die Schule so häufig, dass das Kollegium schon über eine Störung des Unterrichts stöhnt: Das öffentliche Interesse - man könnte auch sagen: der Wunsch nach öffentlicher Kontrolle - ist groß.

Die Schulämter fanden bislang keinen Grund zur Klage. Trotzdem wird immer wieder der Verdacht laut, hinter dem Ganzen stünde eine versteckte Agenda der Islamisierung. Dazu muss man die Herkunft dieser Bildungsbewegung kennen: Einst waren es fromme Kleinunternehmer aus der Osttürkei, die zu bescheidenem Wohlstand gelangt waren und Aufstiegswünsche für ihre Kinder entwickelten, die die Basis der Gülen-Bewegung bildeten. Auch in Deutschland ist es heute vor allem die untere türkische Mittelschicht im Berliner Wedding, dem Frankfurter Gallus oder dem Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, die bereit ist, in diesen Institutionen ein nicht zu knappes Schulgeld für die Zukunft ihrer Kinder zu investieren.

Brücke zur modernen Welt

Das zeigt: Der Wunsch nach "Bildung, Bildung, Bildung" ist heute auch im konservativen, religionsfreundlichen türkischen Milieu angekommen. Diesem Anspruch kam Fethullah Gülen mit einer berühmten Parole entgegen: "Moscheen haben wir genug, wir müssen Schulen bauen." Die Gülen-Bildungsbewegung ist eine Wertegemeinschaft, die eine Brücke zwischen der bäuerlichen, traditionsverbundenen Herkunft vieler türkischer Migrantenfamilien und der modernen säkularen Welt schlägt, mithin eine konservative Modernisierungsbewegung.

Das Misstrauen gegen die Gülen-Schulen speist sich hierzulande aus zwei Quellen. Die erste findet sich unter den in Deutschland lebenden Anhängern des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk. Die Kemalisten sahen den Islam von jeher als potenzielle Gefahr für den türkischen Nationalstaat und die Gläubigen als störendes Hindernis auf dem Weg in eine moderne Republik - das erklärt ihren Argwohn gegen diese konservative religionsfreundliche Bewegung.

Umkehrung der Beweislast

Die andere Quelle sind die grundsätzlichen Vorbehalte, die innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Islam bestehen, nach dem Motto: Man weiß ja nie, welche Wege plötzlich zu einer gefährlichen und zu spät erkannten religiösen Radikalisierung führen. Aus dieser chronischen Sorge entsteht die Umkehrung der Beweislast: Der Verdächtige muss seine Unschuld beweisen, was nicht nur einen Rückfall in voraufklärerische Zeiten bedeutet, sondern auch eine Zumutung darstellt.

Es lohnt sich, das Buch "Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen" zu lesen, das jüngst von einem jüdisch-christlich-muslimischen Team herausgegeben wurde und im Herder-Verlag erschienen ist. Das Buch versammelt Vorträge, die 2009 auf der gleichnamigen Konferenz in Potsdam gehalten wurden. Veranstaltet wurde sie vom Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam und dem "Forum für Interreligiösen Dialog", das der Gülen-Bewegung nahesteht, in Zusammenarbeit mit dem Deutsche Orient Institut, dem Abraham Geiger Kolleg und der Evangelischen Akademie.

Bei dem Besuch der Schulen wie bei der Lektüre des Sammelbands entfaltet sich ein optimistisches Bild: Weil die Gülen-Bewegung konservativ und religionsfreundlich ausgerichtet ist, spricht sie auch diejenigen an, die sich bislang der säkularen Moderne verweigerten - und das sind häufig die Eltern der heutigen Schüler und Schülerinnen. Weil diese Schulen die realistische Möglichkeit eines gelingenden Abschlusses in Aussicht stellen, tragen sie auch viel zum Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen bei. Denn von der Hoffnung, in dieser Gesellschaft einen Platz zu finden, hängt auch der Wille und die Möglichkeit zur Integration ab.


ELISABETH KIDERLEN ist freie Autorin und schreibt über islamische Länder. Zuletzt erschien von ihr ein Aufsatz über die "Geschichte der Menschenrechte in der Islamischen Republik Iran". In: Gunter Geiger (Hg.): "Die Hälfte der Gerechtigkeit?" (Verlag Barbara Budrich).

Quelle: http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/konservative-integration/

Die türkische Bewegung des Fethullah Gülen verbindet Islam und Modernität

In Amerika ist es kein Verstoß gegen den Säkularismus, wenn ein charismatischer Prediger wie Rick Warren die Präsidentschaftskandidaten in seine Gemeinde der Saddleback Church einlädt. In der Türkei würde bereits weit weniger als das Empörung hervorrufen.

Warren hat sich zum Ziel gesetzt, Gräben in der amerikanischen Gesellschaft zu überbrücken und dabei zu den Werten des Glaubens zu stehen. Bei Fethullah Gülen, dem charismatischen, einflussreichen Prediger aus der Türkei, ist das nicht anders. Seit neun Jahren lebt er in Amerika, denn zu Hause fürchtet sich das kemalistische Establishment vor ihm. Es unterstellt Gülen, einen islamischen Staat anzustreben, und hält ihn von seiner Republik fern.

Eine “geheime Agenda”, die Türkei zu islamisieren, habe Gülen, behaupten die kemalistischen Hardliner. Die offene Agenda kommt zu einem anderen Ergebnis: Gülen war der erste bekannte Türke, der den Ökumenischen Patriarchen zu Konstantinopel, Bartholomaios, und den armenischen Patriarchen in der Türkei, Mesrob, in ihren Amtssitzen besucht hat; seither steht er mit beiden im Gespräch. Als Erster bringt Gülen Intellektuelle gegensätzlicher Ideologien Jahr für Jahr zu einem Gedankenaustausch zusammen; dort entstand ein fruchtbarer Dialog. Gülen hat Privatschulen gründen lassen, die unter der staatlichen Schulaufsicht stehen, aber mehr zur Vermittlung von Naturwissenschaften und Fremdsprachen leisten als die staatlichen Schulen.
Dennoch trauen die “säkularen” Kemalisten im Staatsapparat und ihre Freunde im Ausland dem Prediger und dessen Bewegung nicht. Gülen akzeptiert nicht, dass es einen Konflikt zwischen Moderne und Religion gibt, den die “säkularen” Hardliner konstruieren. Sie kommen zu der Prognose, dass Religion in der Moderne verkümmere. Gülen sieht hingegen gerade in der Moderne einen Bedarf an Religion und metaphysischen Werten. Das macht ihn in der Türkei zum Staatsfeind; die Berliner Publizistin Necla Kelek unterstellt ihm sogar eine “zutiefst reaktionäre Denkweise”. Dabei benutzen das kemalistische Establishment und seine Freunde im Ausland das Argument, alles, was der Islam jenseits der Theologie hervorbringe, müsse politisch sein. Damit mache sich der Islam zu einem Gegenmodell für die politische und gesellschaftliche Ordnung des modernen Westens. Neben dem politischen Islam, wie er in weiten Teilen der arabischen Staaten besteht, gab es in der islamischen Welt jedoch stets gesellschaftliche Bewegungen, die den Menschen im Auge haben, nicht die politische Ordnung. In dieser Tradition stehen Gülen und seine Bewegung.

Der Islam hat viele Gesichter. Den mystischen und toleranten türkischen Islam symbolisiert der tanzende Derwisch, der im Drehen um die eigene Achse in Ekstase gerät und dabei die Vereinigung mit Gott sucht. Gülen ist der Mystik und Toleranz verpflichtet, wie sie Mevlana Celalettin Rumi, Yunus Emre und Said-i Nursi entwickelt und gepredigt haben. Auch setzt er die Tradition eines rationalen Islams fort, wie ihn Ghazzali (1058-1111) formuliert hatte. Häufig zitieren Gülens Anhänger sein Wort: “Schimpft nicht auf die Dunkelheit, sondern stellt Kerzen auf.” Im Mittelpunkt von Gülens Denken steht statt der großen Politik die Verinnerlichung der Religion. Dazu predigt er Werte, die sich nicht grundsätzlich von denen des Christentums unterscheiden: Hingabe an Gott und die Menschen, Nächstenliebe und Opferbereitschaft. Sie setzt er den “destruktiven Werten Konflikt und Konfrontation” entgegen. Zusammen ergeben sie eine “weltliche Askese”, die dem Menschen inneren Frieden vermitteln und ihm seine Verantwortung für seine Umwelt bewusst machen soll. “Ideen bewegen und motivieren den Menschen”, sagt Gülen. Er selbst konzentriert sich dabei auf drei “Ideen”: Bildung, Dialog und Medien. So haben seine Anhänger in vielen Teilen der Welt mehr als 500 Schulen gegründet; die “Abant Plattform” und die “Vereinigung der Journalisten und Schriftsteller” bringen Intellektuelle unterschiedlicher Überzeugungen zusammen; das auflagenstärkste Printmedium der Türkei ist die Gülen nahestehende Tageszeitung “Zaman”, ergänzt wird sie um mehrere Fernsehsender und eine Reihe von Periodika. Die Bewegung ist schwer zu fassen. Denn gemeinsamer Nenner ist nicht die Zugehörigkeit zu einer Organisation, sondern das Bekenntnis zu einer Ethik. Die Gegner Gülens biegen die fehlende Institutionalisierung zum Vorwurf um, sie sei eine “klandestine Organisation” mit “umstürzlerischen Absichten”. Entstanden ist ein loses Netz, das die Anhänger informell verbindet. Der Bochumer Islamwissenschaftler Bekim Agai hat es untersucht. Wer sich von Gülens Ideen inspirieren lässt, gründet aus eigener Initiative eine Schule oder ein Bildungszentrum. Die Bewegung selbst gibt sich daher den Namen “Gönüllüler Hareketi”, “Bewegung der Freiwilligen und Ehrenamtlichen”.

Gülens Anhänger tragen die Ideen ihres Predigers in die Welt, auch nach Deutschland. Selbst in der arabischen Welt entfaltet sie sich langsam. Unzutreffend ist die immer wieder verbreitete Behauptung, die Bewegungen Millî Görüs und von Fethullah Gülen seien deckungsgleich oder flössen ineinander über. Millî Görüs ist die von Necmettin Erbakan gegründete Dachorganisation des politischen Islams der Türkei. Sie hat ein klar erkennbares Organigramm, einen islamistischen Diskurs und ein auf die türkische Innenpolitik gerichtetes Interesse. Ihre Mitglieder sind überwiegend türkische Migranten aus der Arbeiterklasse. In allen Punkten unterscheidet sich die Gülen-Bewegung von ihr. Gülens Mitglieder rekrutieren sich überwiegend aus der neuen Mittelklasse, ob in der Türkei oder in Deutschland. Akademiker schließen sich ihr an, die sich mit den drei Hauptanliegen Gülens – Bildung, Dialog und Medien – identifizieren. Sie beschäftigen sich weniger mit der hohen Politik der Türkei als mit lokalen Projekten in Deutschland und sind dabei häufig ehrenamtlich tätig. Denn sie haben, das hört man von ihnen häufig, lediglich “die Hoffnung auf das Wohlgefallen Gottes”, durch das man ins Paradies gelangen kann, aber keine Garantie. Sie müssen sich also vor Gott beweisen, dass sie neben dem Gebet mit konkreten Taten Gutes bewirken. Da schwingt ein Verhalten mit, für das sich in der Türkei der Begriff “islamischer Calvinismus” durchsetzt. Muslime, die sich dazu bekennen, sagen, Arbeit sei eine der höchsten Formen von Gottesdienst.

Anders als Millî Görüs versteht sich die Gülen-Bewegung als überparteilich, unterstützt im Prinzip in der Türkei aber jene Parteien, die die Demokratisierung voranbringen. Wiederholt hat sich Gülen in seinen Predigten für eine funktionierende Demokratie und eine pluralistische Gesellschaft als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen ausgesprochen. Quantitativ fassen lässt sich ein Netz aber nicht, das keine Mitgliedschaft kennt und stark dezentralisiert ist. Die Bewegung ist nicht institutionalisiert, und sie ist nicht politisch. Sie will nicht über politische Macht eine “bessere Gesellschaft” schaffen, sondern von unten in der Gesellschaft durch Bildung und Toleranz dem Menschen dienen.

Dr. Rainer Hermann

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Unser Dschihad ist die Bildung

Die Gülen-Bewegung setzt sich für mehr Bildung von Muslimen ein. Fast ausschließlich junge Deutsch-Türken besuchen die Schulen der Organisation. Auch in Köln gibt es seit drei Jahren ein solches Gymnasium. Zulauf ist garantiert.

Was das deutsche Schulsystem nicht vermag, nimmt jetzt eine muslimische Organisation in die Hand. Die Bewegung des türkischen Predigers und Unternehmers Fethullah Gülen gründet in Deutschland Bildungseinrichtungen für Zugewanderte. Zwar ist man für alle offen, heißt es. Doch besuchen fast ausschließlich junge Deutsch-Türken die mittlerweile 150 Nachhilfevereine, 24 ganztägig und in kleinen Klassen betriebenen Privatschulen und sonstigen Bildungsangebote. Auch Köln hat seit drei Jahren ein solches Gymnasium in Buchheim. Zulauf ist garantiert.

Denn auch viele türkische Eltern wissen, dass ihre Kinder ohne gute Deutschkenntnisse und gehobene Schulabschlüsse keine Chancen in Deutschland haben. Deshalb ist eine wachsende Mittelschicht bereit, Schulgeld zu bezahlen oder per Spende solche Institutionen gründen zu helfen. Das alles geschieht von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Dabei ist der im US-Exil lebende Fethullah Gülen ein bekannter und reicher Mann, und seine Botschaft wird weltweit befolgt. „Baut Schulen statt Moscheen“ hat Gülen schon in den 90er Jahren verkündet. „Unser Dschihad ist die Bildung.“ In über 100 Ländern ist die Bewegung aktiv, von ehemaligen Sowjetrepubliken bis Afrika.

Frömmigkeit und Ehrgeiz

Was steckt hinter dieser muslimischen Bildungsbewegung? Hat sie das Potenzial, zum Partner des deutschen Schulsystems zu werden, wie der Islamwissenschaftler Stefan Reichmuth jetzt auf der zweiten Gülen-Konferenz in Bochum fragte. Die Anhänger Gülens vereinen Frömmigkeit mit Erfolgsstreben, Ehrgeiz und Elitedenken. Eine Kombination, die in säkularem Umfeld auf ungläubiges Staunen trifft.
Ist das nun „Islam light“ oder doch ein geschickter Plan der religiösen Unterwanderung? Beanstandungen gab es bisher nicht. Die Schulen wurden staatlich anerkannt wie katholische oder protestantische Schulen auch. Die Voraussetzungen dafür waren offenbar erfüllt. Der Unterricht läuft nach deutschen Curricula auf Deutsch, erste Fremdsprache ist Türkisch, und statt Religionsunterricht wird zur allgemeinen Überraschung nur Ethik gelehrt. Was aber hat das mit einer muslimischen Bewegung zu tun?

Die Gülen-Bewegung hat sich solchen Fragen erstmals 2009 auf einer Konferenz in Potsdam gestellt. Auch jetzt in Bochum versuchten namhafte Wissenschaftler der Initiative Konturen zu geben. Aber sie blieben viele Antworten schuldig. Größtenteils hätten sie diese auch gar nicht geben können, weil sie sich offenbar noch im Stadium der Recherche befinden. Die Vertreter der Bewegung selber dagegen blieben wortkarg und unscharf. Transparenz sähe anders aus.

Beobachter sehen darin ein immer wieder auftretendes Grundproblem. Obwohl die Gülen-Bewegung mittlerweile Millionen Anhänger zählt, verbindet sie keine feste Organisation, keine verbindliche Struktur, nur das Denken ihres Meisters. Das führte dazu, dass viele ihrer Schulen noch bis vor kurzem bestritten, der Bewegung überhaupt anzugehören oder ihr nahezustehen.

Auch die Gülen offenkundig wohlgesinnte Soziologin Ursula Boss-Nünning rief die Anhänger deshalb auf, ihre Ziele transparenter zu machen. Denn die Schulen, so die Integrationsforscherin, leisteten gute Arbeit. Und auch aus den Ministerien wird ihnen allenfalls vorgeworfen, nicht mit offenen Karten gespielt zu haben. Grundsätzlich stehe man den Angeboten offen gegenüber, heißt es im NRW-Integrationsministerium. „Es fehlt zurzeit aber noch an ausreichend Erfahrung, um zu einem endgültigen Urteil zu kommen.“
Dass es die Gülen-Schule ablehnte, nach dem NRW-Schulmodell Islamkunde zu unterrichten, fand auch der Direktor des Zentrums für interkulturelle Islamstudien an der Universität Osnabrück, Bülent Ucar, in seiner Zeit als Mitarbeiter im NRW-Kultusministerium „verdächtig“.

Die Kritiker hat das befeuert. „Durch den Verzicht auf Religionsunterricht entsteht ein falscher säkularer Eindruck“, findet der Gülen-Kenner Ralph Ghadban von der evangelischen Fachhochschule Berlin. Will die Bewegung auf diese Weise eine liberale Auslegung des Korans von ihren Schülern fernhalten? Denn Gülen vertritt keinen modernen Islam, meint der Islamwissenschaftler Bekim Agai. Modern sei das Ansinnen, der Islam dürfe sich modernen Ideen und somit der Wissenschaft nicht verschließen, weil er sonst nicht weiter bestehen könne. Gülen sehe Religion als Privatsache und sinnstiftende Alternative zur säkularen Gesellschaft an, erklärt auch die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn. Letzte Instanz blieben aber Koran und Scharia.
Gleichstellung abgelehnt

Die Frömmigkeit, nicht der Islam müsse erneuert werden, sagt Gülen. Was aber bedeutet das für das praktische Leben eines Muslim im 21. Jahrhundert? Für eine deutsche Öffentlichkeit absolut befremdlich mussten die Darlegungen der Gülen-Anhängerin Sevdanur Özcans klingen. Fethullah Gülen lehne die absolute Gleichstellung von Mann und Frau ab, referierte sie. Frauen und Männer konkurrierten nicht, sie ergänzten einander und hätten daher unterschiedliche Pflichten.

In die Schulen finden solche Ideen offensichtlich keinen Einzug. Kaum eines der Mädchen dort trägt sich betont islamisch. Es geht um Fleiß, gute Noten und die Unterstützung dafür. Wird deshalb die religiös konservative Unterweisung auf Freizeitaktivitäten und Nachhilfe verlagert, wie Ralph Ghadban behauptet?
Dort nämlich arbeiten viele Ehrenamtliche, die sich zur Bewegung rechnen. Ist der Dienst am Menschen dabei gleichzeitig islamische Mission? Die Gülen-Anhänger würden sagen, dass sie mit ihrem Engagement in der Tat ein Vorbild für gute islamische Lebensführung sind.

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Die Streber Allahs

Eine weltweite muslimische Bewegung propagiert den großen Bildungsaufbruch – und baut in Deutschland Schulen auf

Dschihad kann vieles heißen. Heiliger Krieg, strebendes Bemühen, glühende Frömmigkeit. Für Fethullah Gülen bedeutet das Schlüsselwort des Islams vor allem eines: Bildung. »Baut Schulen statt Moscheen«, ruft der Meister seinen Anhängern zu. »Unser großer Dschihad ist die Bildung.« Und Millionen Muslime folgen ihm. Mit großem Eifer lernen sie nicht nur die Suren des Korans, sondern Mathematik und Englisch, Physik und Deutsch. In Deutschland kennt den geistlichen Führer bislang kaum jemand.

Dabei hat er ein muslimisches Massenphänomen angeschoben. Wann immer derzeit Türken irgendwo auf der Welt eine Schule eröffnen, einen Kindergarten oder eine Nachhilfeeinrichtung, ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn zurückzuführen, den Hocaeffendi, den »verehrten Lehrer«: Fethullah Gülen.
Was ist das für ein Prediger, für den der ärgste Feind des Islams nicht der Unglaube ist, das Christentum oder gar die USA, sondern die eigene Ignoranz der Muslime? Und was bewegt Gülens Anhängerschaft, die als Gruppe ebenso einflussreich wie schwer greifbar ist? Die Fethullahcis, wie man sie nennt, vereinen scheinbar Gegensätzliches: Sie sind fromm und interessieren sich für moderne Wissenschaft, Medien und Ökonomie. Sie folgen einerseits treu dem Koran, predigen andererseits den Dialog mit anderen Religionen und die Integration in ihren neuen Heimatländern. Doch obwohl die Bewegung mittlerweile Millionen Anhänger zählt, verbindet sie keine Organisation, keine offizielle Gemeinde, sondern nur das Denken ihres Meisters (siehe Kasten). Was steckt hinter diesem muslimischen Aufbruch?

Die Antworten kann man in Istanbul oder Ankara suchen, in Sydney, New York, in Stuttgart, Hannover – oder in Berlin-Spandau. Dort, auf einem ehemaligen Kasernengelände der britischen Armee, steht heute das Tüdesb-Gymnasium, eine jener Privatschulen, die sich unter bildungsbewussten Deutschtürken wachsender Beliebtheit erfreuen. Mehr als neunzig Prozent der Schüler stammen hier aus Migrantenfamilien – so wie zum Beispiel Seynab Sarris, die vor zwei Jahren von einer staatlichen Schule kam. »Meine damaligen Lehrer hatten mich aufgegeben«, sagt sie. Sieben Fünfen verunzierten ihr Zeugnis. Heute ist ihre schlechteste Note eine Drei, und Seynab ist Schulsprecherin. Begeistert schwärmt sie vom Tüdesb-Gymnasium. Klein seien die Klassen, selten lernten mehr als 15 Schüler in einem Raum. Und wer im Unterricht etwas nicht verstanden habe, könne bei der Hausaufgabenbetreuung nachfragen. Dafür nimmt sie einiges in Kauf: Anderthalb Stunden fährt die 17-Jährige quer durch Berlin zu ihrer »Traumschule«. Und als ihre Mutter das Schulgeld nicht bezahlen konnte, ging sie selbst jobben.

Am Tüdesb-Gymnasium hört man viele solcher Geschichten. Die Schule ist eine von einem Dutzend ähnlicher Einrichtungen in Deutschland. Fast alle gehören zur Gülen-Bewegung, und fast alle berichten von reger Nachfrage. Wenn in diesen Tagen an der Berliner Tüdesb-Schule die Aufnahmegespräche beginnen, werden wohl wieder auf jeden Platz drei Bewerber kommen – trotz Gebühren von rund 4000 Euro im Jahr.
Seit Mitte der achtziger Jahre gründen die Fethullahcis im großen Stil private Oberschulen und Universitäten. Erst in der Türkei, später auf dem Balkan, in den Nachfolgestaaten des Sowjetreiches, dann auf allen anderen Kontinenten. Viele Absolventen schafften es auf die besten Universitäten ihres Landes – und gründeten wieder neue Schulen. In Berlin und anderswo begannen die Gülen-Anhänger mit Hausaufgabenbetreuung. Später kamen Kindergärten hinzu, dann Schulen. Heute verfügt das Tüdesb Bildungsinstitut Berlin-Brandenburg über vier Kitas, sechs Nachhilfezentren sowie jeweils ein Gymnasium, eine Grund- und Realschule in der Hauptstadt. Der Verein bietet Integrationskurse und Elternschulungen an. Erst kürzlich kamen 500 deutsch-türkische Mütter und Väter im Audimax der TU Berlin zusammen, um etwas über die »10 häufigsten Fehler der Erziehung« zu lernen.

Obwohl die Gülen-Bewegung mittlerweile weltweit für Bildungsehrgeiz und hohe Lernqualität steht, spielt die Person von Fethullah Gülen im Alltag der Lerneinrichtungen so gut wie keine Rolle. An der Spandauer Schule sagt nicht einmal sein Name den Schülern oder den meisten Lehrern irgendetwas. Und wer im Gymnasium ein Bild des Mannes vermutet, kann lange suchen. »Wir sind keine Bekenntnisschule«, sagt Schulleiterin Sabrina Leberecht bestimmt und führt den Besucher durch Gänge und Klassenzimmer. Hier hängen keine Koranverse, sondern Gedichte von Hesse und Kästner sowie binomische Formeln. Auf dem Schulhof bewerfen sich Mädchen mit Schneebällen, einige tragen ein Kopftuch, andere, wie Schulsprecherin Seynab, nicht.
Wie fast alle ihre Kollegen unterrichtete Leberecht zuvor an einer Regelschule. Dass die Unterrichtssprache am Tüdesb-Gymnasium Deutsch ist, »das versteht sich von selbst«, sagt sie. Aber der Sportunterricht? »Da trennen wir von Klasse sieben bis zehn Mädchen und Jungen«, sagt die Schulleiterin und fügt hinzu: »Wie in vielen Berliner Schulen.« Religionsunterricht steht für die 300 Schüler übrigens nicht auf dem Lehrplan, dafür Ethik. An dem Gymnasium, das in Mannheim zur Gülen-Bewegung gehört, lehrte das Fach bis vor Kurzem gar ein evangelischer Pfarrer.

Früher haben die Schulen jede Beziehung zur Gülen-Bewegung bestritten und jedem, der anderes behauptete, mit Klage gedroht. In der Türkei, wo lange Zeit nur der offizielle Staatsislam erlaubt war, haben die Gülen-Anhänger gelernt, sich bedeckt zu halten. In Deutschland fürchten sie Vorbehalte gegen alles Muslimische und kaschieren bislang auch hier ihre religiöse Herkunft. Das allerdings hat das Misstrauen gegen sie eher noch weiter angefacht. Als die Berliner Tüdesb-Schule gegründet wurde, gab es Anfragen beim Senat und Journalistenanrufe beim Verfassungsschutz. Doch niemand konnte Negatives berichten.

Nun möchte die junge Generation der Bewegung die Verschleierungstaktik beenden. Im vergangenen Jahr hat sie mit der Universität Potsdam einen großen wissenschaftlichen Kongress zu Gülens Werk und Wirken organisiert. Abgeordnete von CDU bis Linke waren als Gäste geladen, ebenso der Berliner Rabbinerausbilder Walter Homolka. Es war das Coming-out der Fethullahcis in Deutschland.
Ja, er fühle sich Gülens Idealen nahe, sagt Irfan Kumru, der seit einigen Monaten die drei Tüdesb-Privatschulen in Berlin koordiniert. Regelmäßig liest er die Werke des Predigers. Darin steht zum Beispiel, dass nicht allein Beten oder die Befolgung religiöser Regeln ein gottgefälliges Leben ausmache, sondern der Dienst an der Gemeinschaft. »Für Ausdauer und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt; die Strafe für Trägheit ist Mittellosigkeit«, schreibt der Prediger. Gleichzeitig fordert er seine Anhänger auf, sich ständig zu perfektionieren, am besten durch Bildung. Bevor Irfan Kumru dem Ruf in die Hauptstadt folgte, hat der Mittdreißiger in Mannheim geholfen, Nachhilfezentren und eine Schule aufzubauen, nach deutschen Vorschriften und dem baden-württembergischen Lehrplan.

»Eigentlich sind wir eine ganze normale deutsche Schule«, sagt die Berliner Rektorin Leberecht. Ganz stimmt das freilich nicht. Wie in der Türkei ist eine Schuluniform Pflicht, in Spandau trägt man Blau und Weiß. Auch wird man an deutschen Schulen keine im Flur ausgestellten Fotos der »Schüler des Monats« finden, die sich durch besonderen Fleiß ausgezeichnet haben. Der größte Unterschied aber fällt schnell ins Auge: Hier sind junge Deutschtürken unter sich. Von den 300 Schülern haben gerade einmal sechs deutschstämmige Eltern.
Schulkoordinator Irfan Kumru beugt dem naheliegenden Vorwurf gleich vor: »Wir wollen keine Parallelgesellschaft aufbauen.« Die Schule solle eine Brücke sein in die deutsche Gesellschaft, keine Insel. Von Beginn an wurden Kinder aus deutschen Familien bevorzugt aufgenommen. Sie müssen sogar weniger Schulgeld bezahlen. Multikulti ist daraus dennoch nicht geworden. Schon die zweite Fremdsprache, Türkisch, schreckt deutsche Eltern ab.

Die deutsche Schulleiterin kann der Monokultur aber auch Vorteile abgewinnen. »Die Schüler finden bei uns einen geschützten Raum, aus dem sie gestärkt herauskommen«, sagt Leberecht und verweist auf die Ergebnisse: 27 von 32 Schülern haben im vergangenen Jahr den Sprung in die Oberstufe geschafft, obwohl viele von ihnen keine Empfehlung für das Gymnasium hatten. Die Ergebnisse des mittleren Schulabschlusses fielen weit besser aus als in anderen Schulen mit vielen Kindern aus Einwandererfamilien. Zunehmend mehr deutsch-türkische Eltern scheint der Erfolg zu überzeugen. Denn auch sie kennen die Pisa-Befunde, nach denen sich die Herkunft eines Schülers in Deutschland besonders stark auf seine Leistungen auswirkt.
Kamil Kan hat drei Kinder auf dem Privat-Gymnasium, eine Tochter auf einer staatlichen Schule. »Bei Tüdesb bekommen unsere Kinder einfach mehr Hilfe«, sagt der deutsch-türkische Geschäftsmann. Etwa zusätzliche Deutschstunden, eine individuellere Betreuung und Unterricht bis zum Nachmittag. Dass Gülen die Schulgründer beseelt, weiß Kan. Es interessiere ihn aber nicht besonders, sagt er. Wichtig ist dem Vater dagegen die »Ethik des Zusammenlebens« an der Schule, wie er sagt. Tatsächlich fällt die ruhige und freundliche Atmosphäre auf. Betritt man als Gast einen Klassenraum, springt gleich jemand auf und bietet einen Stuhl an.

Kamil Kan, der mit seinen Lebensmittelläden zu etwas Wohlstand gekommen ist, lässt sich die guten Zeugnisse seiner Kinder etwas kosten. Zusätzlich zum Schulgeld spendet Kan regelmäßig. Zum Beispiel für das neue naturwissenschaftliche Labor. 600.000 Euro haben die Fachräume nach dem modernsten Standard gekostet, ein großer Teil der Summe stammt von Eltern und Geschäftsleuten. Eine deutsch-türkische Baufirma zum Beispiel hat umsonst die Mauern hochgezogen.

»Wir mobilisieren das türkische Sozialkapital«, sagt Irfan Kumru. Früher haben seine Landsleute jeden überzähligen Geldschein in die Türkei geschickt, um Häuser zu bauen oder Autos zu kaufen. Heute investieren aufstiegsorientierte Deutschtürken verstärkt in die Ausbildung ihrer Söhne und Töchter. Sie wissen, dass ohne einwandfreie Deutschkenntnisse und gute Schulabschlüsse niemand in Deutschland eine Zukunft hat. Dabei verbessert die Freigebigkeit der Eltern nicht nur die Chancen der eigenen Kinder im Diesseits, sondern ebenso das eigene Konto der guten Taten im Himmel. Jeder gute Muslim soll der Lehre des Islams zufolge einen Teil seines Einkommens abgeben. Da sie langfristig wirken, werfen Spenden für Bildung bei Allah besonders hohe Zinsen ab.

Ohne diese Werkethik lässt sich die Gülen-Bewegung nicht verstehen, weder das Engagement ihrer Anhänger noch deren weltweite Verbundenheit untereinander. »In welches Land ich auch reise, ich finde immer jemanden, der mir hilft«, sagt Dastan Jalilov, der vor zehn Jahren aus Kirgistan zum Studium nach Deutschland kam. Ein paar Habseligkeiten und eine Telefonnummer in Berlin brachte er mit. Er hatte sie von einem Bekannten aus Kirgistan erhalten. Dass auch er zum Gülen-Netzwerk gehört, verstand er erst später. Jalilov rief die Nummer an, lernte neue Freunde kennen und zog in eine Kreuzberger WG. Hier blieb der Politikstudent die nächsten Jahre. Und das nicht nur, weil die Miete nur hundert Euro betrug. Auch das gemeinschaftliche Leben mit den Mitbewohnern, alle wie er Muslime, gefiel dem jungen Mann.
Die Studenten-WGs gehören zum inneren Kern der Gülen-Bewegung. Hier rekrutiert sie ihre Führungsleute, hier findet die religiöse Unterweisung statt. Lichthäuser heißen sie, circa zwei Dutzend gibt es in Berlin, für Männer und Frauen getrennt. Bisher waren diese Wohngruppen eine verschlossene Welt. Jetzt hat Kristina Dohrn, eine Studentin an der Berliner Humboldt-Universität, für ihre Abschlussarbeit erstmals Zugang gefunden.

Für Verschwörungstheorien, die sich um diese WGs bisher rankten, bieten ihre Recherchen wenig Stoff. Stattdessen traf Dohrn auf eine gottesfürchtige, konservative Welt, in der man gemeinsam lebt, lernt und fünfmal am Tag betet. Alkohol ist tabu, Damen- beziehungsweise Herrenbesuch ebenso. Und um zwanzig Uhr sollte jeder zu Hause sein. Dann liest man den Koran, die Werke Gülens und diskutiert, was die Worte des Meisters für das eigene Tun bedeuten.

»Gülen hat mir gezeigt, wie ich als frommer Muslim in einer westlichen Gesellschaft leben kann«, sagt Jalilov. Mittlerweile hat der 29-Jährige seine WG verlassen, eine glaubensfeste Muslimin geheiratet und einen guten Job gefunden. Im Bezirk Wedding leitet er ein Bildungszentrum. Jeden Tag, auch sonnabends, kommen 130 Jugendliche für zwei bis vier Stunden in die hellen, mit Teppich oder Parkett ausgelegten Räume. Sie machen Hausaufgaben, lernen für Klausuren, bereiten sich auf das Abitur vor. »Wer sich durch besonderen Fleiß auszeichnet, erhält Einzelstunden als Belohnung«, sagt Dastan Jalilov. Der Name des Arbeitgebers hängt in großen Lettern im Flur: Tüdesb.

Copyright: DIE ZEIT, 18.02.2010 Nr. 08
Adresse: http://www.zeit.de/2010/08/Deutsch-Tuerkische-Privatschulen


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Fethullah Gülen und die Gülen-Bewegung in Deutschland

Transnationaler Lokalpatriotismus: Der Beitrag der Gülen-Bewegung zur Integration von Muslimen in Deutschland

1. Einleitung

Die Anschläge in London, Madrid und New York, der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh und die gewalttätigen antiwestlichen Proteste gegen die Karikaturen des Propheten Mohammed in islamischen Ländern haben in vielen europäischen Ländern kontroverse und intensive Diskussionen über Ziele und Wege der Integrationspolitik hervorgerufen. Die heftigen Krawalle in den französischen Banlieue Ende 2005 haben auch hierzulande zu einer breiten öffentlichen Debatte über Defizite der Integration junger Migranten insbesondere junger Muslime geführt. Auch wenn man derzeit davon ausgeht, dass es hierzulande weder ghettoähnliche Zustände noch eine Grundstimmung der Hoffnungslosigkeit bei jungen Migranten gibt, deutet vieles darauf, dass die Gruppe jener, die nichts zu verlieren haben, auch in Deutschland größer wird. Hier besteht Handlungsbedarf.
In Europa lebende Muslime werden in diesem Kontext vor allem als Sicherheitsrisiko angesehen. Ehrenmorde, Parallelgesellschaften und Zwangsheiraten werden fälschlicherweise mit dem Islam gleichgesetzt und stereotype Auffassungen einer mit europäischen Wertvorstellungen angeblich kaum verträglichen Religion drohen sich zu festigen. Gleichzeitig wächst die Einsicht, dass die Bemühungen zur Integration junger Muslime in europäischen Gesellschaften und auch in Deutschland intensiviert werden müssen.
Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt in den Familien und im öffentlichen Raum, defizitäre Bildungs- und Ausbildungserfolge, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, ungenügende Zukunftsperspektiven und soziale Ausgrenzung, die Konzentration von Migranten in benachteiligten Stadtvierteln, aber auch die zunehmende Globalisierung der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten erhöhen das Risiko, dass sich insbesondere marginalisierte Jugendliche muslimischer Herkunft von fundamentalistischen Strömungen und Organisationen beeinflussen lassen.
Die Integration von jugendlichen Muslimen darf aus diesem Grund nicht vernachlässigt werden und die spezifischen Eigenschaften und Charakteristika müssen hierzu einbezogen werden. Hierzu leisten die Einrichtungen, die von nahestehenden der Gülen-Bewegung gegründet wurden, einen wichtigen Beitrag für die Integration von Muslimen in Deutschland. Auch die Ideen und Lehren Fethullah Gülens können diesbezüglich von großem Nutzen sein. Der vorliegende Aufsatz thematisiert daher die Bedeutung der Gülen-Bewegung sowie der Gedanken Fethullah Gülens für die Integration von Muslimen und speziell jungen Muslimen in Deutschland.

Im ersten Abschnitt des Artikels wird die Sozialstruktur junger Muslime in Deutsch-land beschrieben. Dabei geht es insbesondere um die Wertorientierungen und Reli-giosität sowie die Bildungssituation. Anschließend erfolgt eine kurze Betrachtung der Charakteristika der Bewegung und ihrer Entstehung. Anschließend erfolgt die Analyse des Beitrags der Gülen-Bewegung zur Integration.

2. Die Muslime in Deutschland

Hier wird zunächst die demographische Zusammensetzung der Muslime in Deutschland beschrieben. Anschließend wird die Bildungssituation der jungen Muslime betrachtet. Das Kapitel endet mit einer Analyse der Religiosität junger Muslime im Vergleich zu Jugendlichen der christlichen Mehrheitsgesellschaft.

2.1. Demographie der Muslime in Deutschland

Die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime liegt bei etwa 3,3 Millionen, das ent-spricht einem Bevölkerungsanteil von 4%. Knapp die Hälfte aller Ausländer in Deutschland sind also Religionsangehörige des Islam. Die größte Gruppe der Muslime bilden hierbei mit etwa 60% Migranten aus der Türkei. Ende 2005 lebten etwa 1,8 Millionen türkische Staatsangehörige und über 675.000 eingebürgerte Personen türkischer Herkunft in Deutschland. Nach Angaben des Mikrozensus 2005 weisen sogar 2,792 Millionen Personen (3,4 % der Bevölkerung) eine „türkische Herkunftskonstellation“ auf. Angehörige muslimischen Glaubens finden sich zudem in größerer Zahl unter den Personen aus arabischen Herkunftsländern (etwa 520.000), aus Bosnien-Herzegowina (188.000) sowie aus Iran (130.000).

Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime gehört der sunnitischen Glau-bensrichtung an; in der Antwort der Bundesregierung zum „Islam in Deutschland“ wird die Größe dieser Bevölkerungsgruppe, die vor allem aus der sunnitisch gepräg-ten Türkei und aus arabischen Herkunftsländern stammt, mit 2,1 bis 2,4 Millionen Personen angegeben, das Zentralinstitut Islam-Archiv (2005) schätzt ihre Zahl auf 2,6 Millionen.
Alle diese Schätzungen zur Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime stützen sich allerdings auf die Herkunft von Zuwanderern und Eingebürgerten und nicht auf ihr religiöses Bekenntnis oder ihre Glaubenspraxis. Zur genauen Anzahl der gegenwärtig in Deutschland lebenden Einwohner muslimischen Glaubens gibt es keine Angaben. Das liegt vor allem daran, dass die deutschen Behörden Muslime nicht als gesonderte Bevölkerungsgruppe zählen und auch die Religionszugehörigkeit von Ausländern nicht systematisch erfassen. Sie bieten somit nur allgemeine Informationen über die Anzahl der in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Hintergrund.

Bei den in Deutschland lebenden Personen mit muslimischem Hintergrund handelt es sich um eine recht junge Bevölkerungsgruppe, so dass der Anteil der Muslime bei den jüngeren Altersgruppen deutlich über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt. Während bei der ausländischen Bevölkerung der Anteil der unter 30-jährigen bei 42,1% liegt, beläuft er sich bei der deutschen Bevölkerung auf 31,1%. Das hängt mit zwei Aspekten zusammen: Zum einen entschließen in der Regel jüngere Menschen zur Migration und zum anderen liegt die Anzahl der Kinder in ausländischen Familien deutlich höher als in deutschen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Hintergrund eine relativ junge und rasch wachsende Bevölkerungsgruppe bilden, die in den unteren Altersgruppen bis zu zehn Prozent der Bevölkerung stellt. Die Entwicklung des Islam in Deutschland ist zwar historisch vor allem mit der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften und Flüchtlingen verknüpft, aber die Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts haben bewirkt, dass sich die Zahl der Deutschen mit muslimischem Hintergrund im letzten Jahrzehnt verfünffacht hat – von etwa 200.000 (Ende 1995) auf über eine Million (Ende 2005). Mit den Nachkommen muslimischer Zuwanderer, die bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, sowie der zunehmenden Einbürgerung von Menschen mit muslimischem Hintergrund wachsen die Bemühungen, ethnische, sprachliche und religiöse Differenzen zwischen den in Deutschland lebenden Muslimen zu überwinden. Hierbei spielt die Bildung eine bedeutende Rolle.

2.2. Die Bildungssituation junger Muslime in Deutschland

Viele muslimische Kinder und Jugendliche, auch wenn sie bereits in der Zweiten oder Dritten Generation in Deutschland leben, erfahren Schwierigkeiten bei der Integration in die Gesellschaft. Da auch muslimische Kinder der Schulpflicht unterliegen, könnte man vermuten, dass über die Bildungsinstitution Schule eine gesellschaftliche Integration geschaffen und erleichtert werden kann. Doch gerade in der Schule zeigen sich häufig Hindernisse aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse sowie kultureller Konflikte. Seit 1990 sind Schulklassen mit Ausländeranteilen von 50% und mehr in einigen Regionen Deutschlands nichts Ungewöhnliches mehr — mit zunehmender Tendenz, die das deutsche Bildungssystem vor neue Herausforderungen stellt. Zur Realisierung sozialer Teilhabe spielen Sprachkenntnisse als zentrale Handlungskompetenz eine besondere Rolle. Es kann für die in Deutschland geborenen Muslime angenommen werden, dass sie im Verlauf ihres Aufwachsens in Deutschland ausreichende Sprachkenntnisse erworben haben.

Die Ergebnisse einer groß angelegten Untersuchung von Migranten türkischer Her-kunft von Mehrländer u.a. bestätigen diese Annahme . Demzufolge beurteilen 62,2% der Jugendlichen mit türkischem Pass, die im Jahr 1995 bis 24 Jahre alt waren, ihre Sprachkenntnisse als gut oder sehr gut. 20,5% der Befragten beurteilen ihre Sprachkenntnisse dagegen als schlecht oder sehr schlecht. Die Autoren belegen, dass 92% der 15-bis 24-Jährigen keine Probleme beim Einkaufen in deutschen Geschäften haben und dass 87,2% in ihrer Freizeit mit Deutschen Gespräche führen können; 73,8% dieser Gruppe kann Deutsch schreiben. Die Beurteilungen der Interviewer für die türkischen Befragten drücken aus, dass knapp die Hälfte (46,9%) über gute bis perfekte Deutschkenntnisse verfügt. Für 16,3% werden dagegen nur wenige oder gar keine Verständigungsmöglichkeiten ausgewiesen. Die schulische und berufliche Ausbildung von ausländischen Jugendlichen ist im Durchschnitt geringer qualifizierend als die von deutschen. 9,3% aller Schüler in Deutschland sind ausländischer Herkunft. Von diesen hatten 43,4% die türkische Staatsangehörigkeit, 11,8% die eines der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens und 19,5% waren außereuropäischer Herkunft. Darunter waren die Hauptherkunftsländer Iran, Marokko, Afghanistan und der Libanon. Die meisten von ihnen sind also Muslime.

Auch wenn die amtliche Statistik in Deutschland zur Bildungsbeteiligung von Migranten aufgrund der ausschließlichen Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit nach wie vor unbefriedigend ist, da eingebürgerte Schüler mit Migrationshintergrund und junge Aussiedler nicht berücksichtigt werden, lassen sich konkrete Tendenzen aufzeigen. Demnach hat sich die schulische Situation junger Migranten in den vergangenen Jahren entscheidend verbessert, obwohl sich die Differenzen zwischen jungen Deutschen und jungen Migranten als stabil erweisen. So erwerben immer mehr Jugendliche weiterführende Schulabschlüsse und immer mehr beenden ihre Ausbildung mit der Hochschulreife, in deren Folge auch die Zahl der ausländischen Studenten angestiegen ist.

Die Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) bestätigen bereits für die 1980er und 1990er Jahre die Tendenz, wonach junge Migranten und damit auch die jungen Türken, im Laufe der Jahre verstärkter an höheren Bildungsgängen partizipieren. Demnach haben sich die Übergänge von der Grundschule auf die Hauptschule in den Jahren 1985 bis 1995 kontinuierlich zugunsten eines stärkeren Übergangs auf die Realschule verschoben. Wechselten 1985 noch 74,4% der Migrantenkinder von der Grund- auf die Hauptschule, waren es 1995 nur noch 37,9% — dem entspricht ein Anstieg derer, die von der Grundschule auf die Realschule wechselten — der Anteil war bis 1995 auf 34,8% gewachsen. Die Zunahme des Wechsels auf das Gymnasium hingegen ist im zeitlichen Verlauf relativ gering: Zwar war er im Jahr 1985 mit 8,6% am geringsten, erhöhte sich 1990 auf 16,3%, ging aber bis 1995 wieder zurück. Ungeachtet solcher langfristiger Verbesserungen gelten für die Gegenwart nach wie vor gravierende soziale Benachteiligungen in den schulischen Bildungsprozessen junger Migranten im Vergleich mit jungen Deutschen. Beispielsweise 43,8% der Migranten besuchen die Hauptschule und nur 13,9% das Gymnasium. Von den deutschen Schülerinnen und Schülern besuchten nur 18,6% die Hauptschule und 32,3% das Gymnasium.

Somit erwerben muslimische Jugendliche im Durchschnitt niedrigere Bildungsab-schlüsse als deutsche. Neben kulturellen und sprachlichen Schwierigkeiten kann angenommen werden, dass die in der PISA-Studie beschriebene Beziehung zwischen schulischer Leistung der Kinder und Bildungsniveau der Eltern eine Rolle spielt, denn ausländische und auch muslimische Jugendliche stammen häufiger aus Arbeiterfamilien.
Der Anteil ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen liegt bei 12,2%, von denen ein Großteil allerdings zu Bildungsausländern zählt (also solchen Personen, die ihre Hochschulreife im Ausland erworben haben). Der Anteil der Bildungsinländer liegt bei nur 3,3%.

Es kann beobachtet werden, dass die Zahl jugendlicher Migranten und insbesondere auch Muslimen mit jeder steigenden Stufe des Bildungssystems abnimmt. Während an den allgemein bildenden Schulen noch jeder Zehnte einen ausländischen Pass hat, so ist es bei den Auszubildenden nur noch jeder Sechzehnte und bei den Studierenden nur noch jeder Dreißigste.

Dennoch, so zeigen neue Ergebnisse zum Einfluss des Migrationsstatus auf die Übergangsquote in den Hochschulbereich, ist die Quote von Studenten aus Arbeiterfamilien bei jugendlichen Migranten höher als bei solchen ohne Migrationshintergrund. Zwar ist auch hier das Herkunftsmilieu ein entscheidender Einflussfaktor, allerdings ist die Übergangsquote der Studienberechtigten aus nichtakademisch gebildeten Migrantenfamilien, zu denen zum großen Teil auch Studienberechtigte aus dem türkischen Migrationskontext stammen, höher als bei Studienberechtigten aus deutschen nicht-akademischen Milieus. In dieser stark vorgefilterten Gruppe, die nur einen geringen Teil aller Studienberechtigten ausmacht, ist der Wunsch nach einer akademischen Laufbahn besonders ausgeprägt. Welchen Beitrag die Gülen-Bewegung hierbei leistet soll nach einer Betrachtung der Religiosität junger Muslime analysiert werden.

2.3. Die Religiosität junger Muslime in Deutschland

Der technische Fortschritt bis hin zur Informationsrevolution unserer Zeit hat die menschliche Lebensweise grundlegend verändert. Viele meinten deshalb, die Religionen würden irgendwann einmal irrelevant. Und manche in Europa haben sich sogar angewöhnt, Religion als rückständig anzusehen. Tatsächlich erleben wir gerade genau das Gegenteil: Viele Menschen besinnen sich auf die Religionen und ihre Werte, weil sie Orientierung und Halt geben in einer Welt immer schnellerer Umbrüche. Dies gilt auch für die jungen Muslime in Deutschland.

In der empirischen Jugendforschung wurde das Thema Religion lange Zeit weitge-hend vernachlässigt. Zudem bezogen sich die wenigen Studien zu Religion und Religiosität von Jugendlichen in Deutschland nahezu ausschließlich auf deutsche Jugendliche. Von wenig Bedeutung war das Thema Religion auch in zahlreichen Studien zur Lebenssituation von jugendlichen Migranten. Die religiöse Orientierung von Zuwanderern, vor allem von Jugendlichen mit türkisch-muslimischem Hintergrund, ist erst seit Mitte der neunziger Jahre verstärkt zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Neuere Studien zur Religiosität junger Muslime verdeutlichen, dass viele der Jugendlichen auf der Suche nach einer bewussten Lebensführung in der Moderne vornehmlich auf den Islam zurückgreifen. Jedoch sind dies überwiegend qualitative Studien, die oft mit niedrigen Fallzahlen, einer selektiven Auswahl der Befragten und einer Konzentration auf bildungserfolgreiche Muslime einhergehen.

Die Religiosität von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ist erst in den letzten Jahren zum Thema vorwiegend quantitativer Jugendstudien geworden. Zu den Ergebnissen der Shell Jugendstudie gehört, dass 27 Prozent der deutschen, jedoch nur sechs Prozent der türkischen Jugendlichen sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen. Bei der Frage nach religiösen Praktiken und Einstellungen gaben 14 Prozent der deutschen und 35 Prozent der türkischen Jugendlichen an, dass sie mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen. Die Anteile der türkischen Jugendlichen, die ihre Kinder religiös erziehen möchten (männlich: 64 %; weiblich: 74 %), die manchmal oder regelmäßig beten (männlich: 41 %; weiblich: 52 %), oft religiöse Bücher lesen oder an eine „höhere Gerechtigkeit“ glauben (männlich: 72 %; weiblich: 78 %), sind ungefähr doppelt so hoch wie bei den deutschen Befragten.

Die Shell Jugendstudie kommt zu dem Ergebnis, „dass es in Deutschland drei ver-schiedene Kulturen der Religiosität gibt“, „eine Mehrheitskultur westdeutscher Ju-gendlicher, die man als mäßig religiös einstufen kann“, „eine Teilkultur ostdeutscher Jugendlicher, die nur in geringem Maße religiös ist“, und eine „aus geprägt religiöse Kultur“, die von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gebildet wird.
Während zehn Prozent der ostdeutschen und 28 Prozent der westdeutschen Ju-gendlichen aus Elternhäusern kommen, die „sehr religiös“ oder „ziemlich religiös“ sind, gilt dies für 54 Prozent der befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund und 73 Prozent der jungen Muslime. Diese wachsenden Differenzen der Religiosität scheinen die Jugendlichen eher auseinander- als zusammenzuführen.
Zu den Ergebnissen der 15. Shell Jugendstudie gehört, dass bei den befragten Ju-gendlichen ein steigender Wunsch nach einer künftigen Verringerung des weiteren Zuzugs von Migranten besteht. Sie zeigt außerdem, dass Religionsverständnis bei höherer Schulbildung liberaler ist als bei niedriger Schulbildung. 15% der türkisch-stämmigen Muslime in der Altersgruppe 18 bis 30 Jahre beurteilt das Leben in einem christlichen Land als sehr oder eher schwierig.

Insgesamt kann konstatiert werden, dass der Islam für viele junge Muslime wichtige Funktionen erfüllt. Er prägt ihr Selbstverständnis in einer modernen, säkularen und liberalen Gesellschaft. Er hat somit eine das Individuum stabilisierende und die ethnischen Minderheiten integrierende Funktion. Damit steigt allerdings auch die Gefahr, dass radikal-islamische Milieus entstehen, die sich von der einheimischen Kultur isolieren und parallelgesellschaftliche Strukturen herausbilden. Hier leisten die Aktivitäten und Einrichtungen der Gülen-Bewegung wichtige Beiträge. Auf diese wird im folgenden Kapitel eingegangen.

3. Der Beitrag der Gülen-Bewegung zur Integration

Im diesel Kapitel soll auf den Beitrag der Gülen-Bewegung zur Integration von Mus-limen in Deutschland eingegangen werden. Zunächst erfolgt eine Analyse der Charakteristika der Bewegung. Anschließend werden die Beiträge im Bildungsbereich erläutert und die Sozialkapitaltheorie sowie die Finanzierung der Einrichtungen und Aktivitäten betrachtet. Dabei beruhen meine Ausführungen vor allem aus eigenen Erfahrungen und
Beobachtungen.

3.1. Die Charakteristika der Gülen-Bewegung

Die aktuelle Verwendung des Begriffes „Transnational“ in den Sozialwissenschaften umfasst „alle Phänomene, die mit einer verminderten Bedeutung von Nationalstaatsgrenzen und der damit einhergehenden Zunahme an Intensität und Komplexität der Verteilung von Objekten, Ideen und Menschen über Staatsgrenzen hinaus, zusammenhängen“. Die Gülen-Bewegung kann somit als transnationale Bewegung gesehen werden. Ihr Ziel besteht darin gegenseitiges Verständnis, Respekt, Toleranz und Frieden unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen zu fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, bauen die Ehrenamtlichen der Bewegung weltweit über Staatgrenzen hinaus Dialoge und Kooperationen mit Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft auf. Aus diesen Verbindungen entstehen Netzwerke, die eine besondere Form eines Beziehungssystems darstellen, die Migrantengruppen grenzüberschreitend mit ihrem Herkunftsland und weiteren Staaten verbindet.

Die Auswirkungen transnationaler Netzwerke auf die Gesellschaft des Aufenthalts-landes und auf den Transmigranten sind vielfältig. Grenzüberschreitender Austausch und Bindungen, gestatten Individuen an weit entfernten Orten in ein Beziehungsgeflecht einzutreten und führen nach Glick Schiller et al und nach Vertovec zu Hybridität, zu einer Verschiebung von Wertvorstellungen, zur Anregung neuer Konsumbedürfnisse und zur Erweiterung kultureller Identitäten. Beispielhaft ist hierbei der Einfluss der Migranten auf die soziale Schichtung der Aufnahme- und der Herkunftsgesellschaft.

Diese Art von Verbindungen ist kein neues Phänomen in der Geschichte. Viele Be-wegungen haben transnationale Einflüsse ausgeübt und Netzwerke gebildet. Hierzu zählen zum Beispiel die Bewegungen zum Schutz der Umwelt. Die Ehrenamtlichen der Bewegung haben aus verschiedenen Kontexten heraus Bekannte und Freunde, die sie in ihr persönliches Netzwerk einbinden, diese bestehen aus unterschiedlichsten Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religionszugehörigkeit. Die Netzwerke sind dabei so vielfältig, wie die Ehrenamtlichen als Individuen. Man darf hierbei allerdings den nicht Begriff Bewegung mit dem Begriff der Organisation verwechseln.

Die nach dem türkischen Gelehrten Fethullah Gülen benannte Gülen-Bewegung ist eine durch den Glauben motivierte Bewegung. Sie ist keine Organisation. Eine Organisation ist nämlich ein von bestimmten Personen gegründetes, zur Verwirklichung spezifischer Zwecke planmäßig geschaffenes, hierarchisches verfasstes, mit Ressourcen ausgestattetes, relativ dauerhaftes und strukturiertes Aggregat (Kollektiv) arbeitsteilig interagierender Personen, das über wenigstens ein Entscheidungs- und Kontrollzentrum verfügt, welches die zur Erreichung des Organisationszweckes notwendige Kooperation zwischen den Akteuren steuert, und dem als Aggregat (Körperschaft, juristische Person) Aktivitäten oder wenigstens deren Resultate zugerechnet werden können.

Eine Bewegung hingegen ist eine Gesinnungsgemeinschaft mit einer gemeinsamen Vorstellung und gemeinsamen Überzeugungen. Bewegungen haben thematisch fokussierte Netzwerke, in denen sich ein Rahmen vorgeben lässt, mehr aber auch nicht. Es handelt sich bei ihnen um labile Gebilde, da grundsätzlich für alle Beteiligten die Möglichkeit besteht, die Bewegung wieder zu verlassen. Bewegungen verfügen über keine Sanktionsinstanzen bzw. -mechanismen zur Verhinderung von Ein- und Austritten. Desweiteren sind Bewegungen nicht Ansammlungen von Einzelpersonen, sondern Netzwerke von Gruppen, so dass es ausreicht Teil einer Gruppe zu sein, um Teil des Netzwerkes zu sein. Diese Voraussetzungen gelten auch für die Gülen-Bewegung.

Ein wichtiger Grundsatz der Bewegung bei allen Aktivitäten ist, dass die Ehrenamtli-chen der Bewegung stets nach den Gesetzen und Richtlinien des Landes handeln, in dem sie leben und die demokratischen Grundwerte fördern. Sie lieben das Land in dem sie leben und setzen sich für die Zukunft und das Zusammenleben lokal ein.

Die Gülen-Bewegung setzt sich aus Ehrenamtlichen und Freiwilligen zusammen und bemüht sich um moralische und universelle Werte wie Liebe, Mitgefühl und das Streben nach Gottes Wohlwollen durch den Dienst für die Menschheit. Die Ehrenamtlichen der Bewegung betrachten den Dienst für die Menschen als Dienst für Gott. Jeder Freiwillige, egal welcher Religionszugehörigkeit oder Herkunft, der der Menschheit einen Dienst erweisen möchte, kann Teil der Bewegung werden. Die Ehrenamtlichen würdigen und unterstützen universelle Werte wie Ehrlichkeit, Zusammengehörigkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Gesetzestreue, konstitutionelle und aktive Demokratie, Religions- und Gewissensfreiheit sowie Menschenrechte.

Die Aktivitäten erstrecken sich auf den Bildungsbereich, den interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie den Medienbereich. Die Bewegung verfolgt keinerlei politische Ziele. In den zahlreichen Werken Gülens wird verdeutlicht, dass die Bewegung nicht die Gründung eines islamischen Staates beabsichtigt. Die Bewegung ist daran interessiert mit demokratischen Institutionen zusammen zu arbeiten. Projekte und Aktivitäten mit politischen Parteien bzw. Politikern sind möglich. Jedoch existiert keine gemeinsame vorgegebene politische Präferenz. Die Angehörigen sind von der demokratischen Partizipation überzeugt und haben ihre eigenen, individuellen politischen Standpunkte. So kann es sein, dass Ehrenamtliche der Bewegung Mitglieder unterschiedlichster Parteien sein können und sich sozial engagieren.

Die Einrichtungen der Bewegung initiieren und wirken bei Projekten zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mit. Sie bemühen sich insbesondere gegen Unwissenheit, Armut, politische Anarchie, gegenseitige Vorurteile und Separatismus. Die Bewegung arbeitet lösungsorientiert, selbstlos und friedlich. Sie verurteilt offen Rassismus, Antisemitismus, Radikalismus, Extremismus und jegliche Form der Gewalt. Sie fördert Bildung, mäßiges Handeln und Versöhnung, zwischen allen Menschen, egal welcher Religionszugehörigkeit oder Ethnie.

Die Bewegung ist offen für gemeinsame Projekte, dynamisch und anpassungsfähig. Der Prozess der Modifikation von einer zunächst türkeibasierten kulturellen und bildungsorientierten zu einer transnationalen globalen Bewegung ist ein Zeichen ihrer Universalität, Lernbereitschaft und ihrer positiven Dynamik. Die Bewegung, die ursprünglich hauptsächlich aus Türken bestand und überwiegend von der türkischen Kultur und Geschichte geprägt war, hat keinerlei Verbindungen zu rassistischen, ultranationalistischen und pan-türkischen/turanistischen Ideologien und besteht heute aus Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religion. Jegliche Art von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus wird als Bedrohung für gesellschaftlichen Frieden und Ordnung betrachtet. Auch wenn die Mehrheit der Ehrenamtlichen der Bewegung immer noch türkische Muslime sind, wächst die Zahl der Menschen mit verschiedenen ethnischen und kulturellen Hintergründen, die das Selbstverständnis der Bewegung teilen und sich an ihren lokalen Projekten beteiligen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Synthese aus Transnationalität und lokalem Patriotismus die Gülen-Bewegung zu einem wichtigen Akteur bei der globalen Förderung von Frieden und Toleranz macht. Somit kann die Bewegung als eine transnationale Bewegung angesehen werden, die mit höchster Motivation versucht lokale Probleme mit konkreten lokalen Projekten zu lösen und so dem jeweiligen Land, der jeweiligen Region oder der Stadt von Nutzen zu sein.

Da es viele Menschen gibt, die sich mit einer Philosophie der Liebe und Toleranz identifizieren und daher Projekte und Aktivitäten vorschlagen, initiieren und ausfüh-ren und kann auch von einer weltweit aktiven „Bewegung der Liebe und Toleranz“ gesprochen werden. Jeder der sich für Liebe, Toleranz und Frieden einsetzt ist Teil dieser Bewegung. Zu einer derartigen Bewegung würde ich auch Ghandi, Martin Luther King, Hans Küng und Mutter Theresa zählen. Auch Die Gülen-Bewegung kann als ein Teil dieser „Liebe und Toleranz Bewegung“ gesehen werden.

3.2. Der Beitrag der Gülen-Bewegung im Bildungsbereich

Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts. Sie bezieht sich nicht nur auf die allgemeine Schulbildung und formelle Berufsausbildung, sondern ebenso auf berufliche Weiterbildung und kontinuierliches selbst gesteuertes Lernen. Ihre gesellschaftliche Bedeutung lässt sich wie für die meisten anderen modernen europäischen Gesellschaften auch für Deutschland an der Gleichzeitigkeit von Bildungsexpansion und sozialer Ungleichheit von Bildungschancen bemessen. So hatte die in Deutschland bereits in den 1950er Jahren einsetzende, sich in den 1960er Jahren beschleunigende und bis in die jüngste Gegenwart andauernde Bildungsexpansion zu einer zunehmenden Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten geführt. Die Gastarbeiter der ersten Generation hatten selber nicht dir Möglichkeit den sozialen Aufstieg über Bildung zu schaffen. Unter verschiedenen Alternativen entschieden sie sich zur Migration. Das Ziel dieser sog. ersten Generation war es, eine bessere Zukunft für Ihre Kinder zu ermöglichen. Die Bildungsexpansion in Deutschland haben diese zunächst verpasst. Die Bildungsexpansion hat die Bildungschancen für alle Schichten erhöht, aber zu einem Abbau der Chancenunterschiede zwischen den Schichten ist es kaum gekommen. Auffällig sind in dieser Hinsicht auch die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern sowie die schlechteren Aussichten für Kinder mit Migrationshintergrund. Die Kinder jener ausländischen Familien brachten häufig sehr nachteilige Voraussetzungen für den Besuch von Schulen und Hochschulen mit. Obwohl seit den 80er Jahren eine gewisse Verbesserung der Situation eingetreten ist, haben ausländische Kinder, wie bereits erläutert nach wie vor besonders schlechte Bildungschancen. Aber gleichzeitig hat sich auch das Bildungsniveau deutscher Schüler erhöht. Daher sind die Abstände der Bildungschancen zwischen deutschen und ausländischen Schülern im allgemeinbildenden Schulsystem nur gewachsen.

IGLU 2006 und PISA III im Dezember 2007 allerdings hatten bestätigt, dass es in keinem anderen Land einen so straffen Zusammenhang zwischen der sozialen Stellung der Familie sowie der Herkunft und dem Schulerfolg der Kinder dieser Familien gibt. Immer mehr Migrantenfamilien wollen die verpasste Bildungsexpansion für sich selber nachholen, schaffen dies aber nicht. Auch in der Türkei erleben wir seit den letzten Jahren eine Bildungsexpansion in der türkischen Unter- und Mittelschicht. Die Schulen und Einrichtungen der Gülen-Bewegung in der Türkei stellen hierbei einen wichtigen Faktor dar. Die Gedanken Gülens und die Erfolge der Einrichtungen der Bewegung motivierten auch hierzulande Menschen dazu Bildungsvereine zu gründen, um so einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu erhalten. Durch diese positiven Beispiele die weltweit erfolgreich waren entstanden auch in Deutschland Nachhilfezentren, Privatgymnasien und sonstige Bildungseinrichtungen.

Die Entstehungshintergründe sind in den meisten Fällen ähnlich: Einige Familien mit türkischem Migrationshintergrund entschließen sich, die Bildung ihrer Kinder zu fördern. Bei der Suche stoßen sie auf die Lehren Gülens und seiner Anhänger. Anschließend gründen sie eine Elterninitiative und organisieren zunächst Nachhilfeunterricht. Viele dieser Initiativen, die lokal entstehen und lokale Bildungsprobleme lösen wollen, werden im Laufe der Jahre zu Vereinen und Bildungsträgern. Sie wachsen und finden weitere Sponsoren für ihre Bildungsaktivitäten. Heute betreiben derartige Vereine Bildungszentren, Kindertagesstätten, Grundschulen, Realschulen und Gymnasien. Da es sich bei allen um eigenständige Vereine handelt, die jeweils getrennt organisiert sind, kann keine genaue Zahl derartiger Einrichtungen genannt werden. Zumal sind Gründungsmitglieder, Lehrer, Mitarbeiter und Schülereltern nicht alle Anhänger der Bewegung. Der Aufruf Gülens zu mehr Bildung dient desweiteren lediglich als Moti-vationsquelle und Inspiration. Für Eltern stehen der Bildungs- und Sozialisationsaspekt ihrer Kinder und die Erfahrung der Gülen-Bewegung in diesem Bereich im Vordergrund. Nicht alle, die die Einrichtungen unterstützen bzw. ihre Kinder dorthin schicken sind Anhänger von Gülen. Für sie sind die Bildung und der Aufruf zu Dialog und Toleranz essentiell. In diesem Bereich hat die Gülen-Bewegung sich in der Türkei und auch in vielen weiteren Ländern einen Namen gemacht. An dieser Stelle soll nun auf die einzelnen Einrichtungen eingegangen werden. Dabei geht es mir darum, Aktivitäten und Arbeitsweisen darzustellen, die ich in vielen beobachten konnte. Die Liste ist nicht vollständig.

Die Nachhilfezentren:

Eine gute berufliche Ausbildung und die Chance zum Besuch einer Universi-tät hängen vom Erfolg in der Schule ab. Jugendliche, die nicht gefördert und unter-stützt werden, können die Gesellschaft vor schwer lösbare Herausforderungen stel-len. Die meist deutschen und türkischen Lehrkräfte der Bildungszentren haben da-her, neben der Förderung im schulischen Bereich, die Aufgabe, mit vielen weiteren Angeboten und Aktivitäten die Jugendlichen zu unterstützen und sie zu erfolgreichen, pflichtbewussten, selbständigen und an der Gesellschaft teilhabenden Individuen zu entwickeln. Da die Eltern für die Entwicklung und Erziehung der Kinder eine wichtige Rolle spielen, bieten viele Nachhilfezentren sog. Elternschulen und regelmäßige Seminare und Veranstaltungen zum Thema Kinder- und Jugendpsychologie an.
Darüber hinaus bieten die Nachhilfezentren Integrationskurse für Migranten an. Sprache ist ein Schlüssel für erfolgreiche Integration. Aus diesem Grund wurde zu Beginn 2005, mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes, ein Mindestrahmen staatlicher Integrationsangebote geschaffen. Den Kern dieser staatlichen Angebote bildet der Integrationskurs. Die Integrationskurse umfassen insgesamt 645 Unterrichtseinheiten. Den ersten Teil, bestehend aus 600 Unterrichtseinheiten, bildet der Sprachkurs. Der zweite Teil nennt sich Orientierungskurs und besteht aus den restlichen 45 Unterrichteinheiten. In diesem Kursabschnitt stehen die Themenbereiche “Politik in der Demokratie”, “Geschichte und Verantwortung” und “Mensch und Gesellschaft” im Vordergrund. Das Ziel dieser Kurse ist es, das Migranten sich im Alltag verständigen und an der deutschen Gesellschaft teilhaben können. Diese Kurse werden von fast allen Nachhilfezentren angeboten.

Kindergärten

Bildung und Integration müssen bereits im vorschulischen Alter beginnen. Aus die-sem Grunde unterhalten viele Initiativen und Bildungsträger Kindertagesstätten. Da Sprache eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Integration darstellt, findet die Bildung und Erziehung in den Kindertageseinrichtungen zweisprachig in Deutsch und Türkisch statt. Um dies optimal umzusetzen und weiter zu entwickeln, werden Lehrkräfte mit deutscher und türkischer Muttersprache beschäftigt, so dass jede Gruppe jeweils von einer muttersprachlich deutschen und einer türkischen Er-zieherin betreut wird. Zusätzlich wird den Kindern, ihrem Alter entsprechend, eine Spracherziehung von Logopäden angeboten. Ergänzend dazu wird den Kindern im Vorschulalter auch Englisch vermittelt.

Grundschulen und Gymnasien

Die Grundschulen und Gymnasien richten ihre Erziehung und den Unterricht an den Lehrplänen und Richtlinien des Landes aus, in dem sie sich befinden.
Auf der Grundlage reformpädagogischer Ansätze wie z.B. von Montessori und J. Reichen werden Persönlichkeit, Eigenverantwortung und Selbstständigkeit des ein-zelnen Schülers in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit gestellt. Auch hier findet eine gezielte Sprachförderung statt. Die Unterrichtssprache ist Deutsch. Türkisch und Englisch werden als gleichberechtigte Fremdsprachen angeboten.
Die Schulen bieten neben der bestmöglichen Einrichtung der Klassen-, Physik- und Chemieräume auch modernste Technik in ihren Computerräumen. Sie sind überdurchschnittlich gut ausgestattet. Bibliotheken, Aufenthalts- und Entspannungsräume stehen den Schülerinnen und Schülern ebenfalls zur Verfügung. Aufgrund der klein gehaltenen Klassen ist es den engagierten Lehrerinnen und Lehrern der Schulen möglich, sich intensiver um die Belange ihrer Schüler zu kümmern und mit ihnen zu kommunizieren. Sollten Schülerinnen und Schüler wider Erwarten doch mal Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff haben und diese im Unterricht nicht zu lösen sein, stehen ihnen eigens für diesen Fall engagierte studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung, die in zusätzlichen Förderstunden Unterstützung anbieten.
Darüber hinaus wird damit den Schülerinnen und Schülern eine weitere Vertrauens- und Ansprechperson für jedwede Belange geboten. Somit wird versucht zu gewährleisten, dass kein Schüler erfolglos bleibt. Wichtige Bestandteile in der Bildung sind in nahezu allen Einrichtungen die Gewährleistung der steten Kommunikation zwischen Schule, Schülerinnen, Schüler und Eltern sowie die demokratische Teilhabe der Schüler an Entscheidungen, die sie betreffen. Durch die Möglichkeit der demokratischen Partizipation an Entscheidungen in der Schule erlernen die Schüler bereits in jungen Jahren demokratisches, tolerantes, respektvolles Verhalten und die friedliche Auseinandersetzung mit anderen Meinungenund Ansichten.
Bildung ist der entscheidende Schlüssel zur sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es kommt vor allem darauf an, über eine frühzeitige Bildungsbeteiligung Chancen zu eröffnen und Potenziale zu wecken und zu fördern. Defizite aus frühen Bildungsphasen, die nicht rechtzeitig beseitigt werden, wirken bis in den Übergang in Ausbildung und Arbeit fort. Voraussetzung für eine gelingende Grundschulbildung ist, dass Kinder bereits im Vorschulalter die deutsche Sprache erlernen. Die allgemein bildende Schule muss die Förderung der Sprachkompetenz in Deutsch kontinuierlich fortsetzen und vertiefen. Mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen zu höheren Bildungsabschlüssen geführt werden und Berufsorientierung muss frühzeitig beginnen. Hierzu leisten die genannten Einrichtungen wichtige Beiträge. Die Bildungseinrichtungen, insbesondere Schulen, können als hervorragende Orte zur Integration bezeichnet werden, zu deren Bildungs- und Erziehungsauftrag es gehört, demokratische Grundwerte zu vermitteln, für unterschiedliche kulturelle Prägungen und religiöse und weltanschauliche Überzeugungen offen zu sein und interkulturelle Kompetenz zu fördern.

3.3. Die Dialogaktivitäten der Gülen-Bewegung

Genauso wichtig, wie die Aktivitäten im Bereich der Bildung und Erziehung, sind die Aktivitäten der Bewegung im interkulturellen und interreligiösen Dialog mit dem Ziel, gemeinsam mit allen in dieser Gesellschaft lebenden Menschen eine Kultur des Zusammenlebens auf der Basis der universellen menschlichen Werte zu fördern. Durch diese Aktivitäten entstehen Plattformen, in denen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sich auf rein menschlicher Ebene begegnen und Freundschaften schließen können.
Der Beitrag zum interkulturellen und interreligiösen Dialog ist ein wichtiger Eckpfeiler der Gülen-Bewegung. So wird der Integrationsprozess aktiv von der Minderheitsgesellschaft mitgetragen und -gesteuert.
Die Dialogaktivitäten haben zum Ziel einen Beitrag zur Verständigung über die ge-meinsamen Grundlagen und Regeln des Zusammenlebens zu leisten. Dabei geht es uns insbesondere darum, das interkulturelle Verständnis von Menschen mit unterschiedlichsten Kulturen zu fördern. Hierzu werden Vorträge, Seminare, Symposien, Gesprächsabende, Workshops und Diskussionsrunden organisiert. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration von Migranten. Dabei ist wichtig, dass Integration nicht als Assimilation, sondern als gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen verstanden wird. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichsten Kulturen friedlich und harmonisch miteinander leben, und dabei ihre kulturellen Eigenarten bewahren können. Hierfür sind Toleranz, Respekt und gegenseitige Akzeptanz und
Anerkennung Voraussetzung.

Ich möchte hier Beispielhaft einige Veranstaltungen unseres Vereins FID BERLIN e.V. erwähnen.

• Berlin als Hauptstadt Deutschlands und als eine der wichtigsten Metropolen der Welt hat im interkulturellen Dialog und beim Thema Integration eine be-sondere Bedeutung. Aus diesem Grunde organisiert FID e.V. in Zusammenarbeit mit dem Hauptverband INFRANEU e.V. seit 2005 jedes Jahr ein Symposium mit dem Titel „Dialog der Kulturen als europäische Chance“ in der deutschen Hauptstadt Berlin im Abgeordnetenhaus. Die Schirmherrschaft dieser Veranstaltungen liegt bei Herrn Walter Momper (Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin) und bei Prof. Dr. Rita Süßmuth (Präsidentin des Deutschen Bundestages a.D.). Alle Symposien waren mit jeweils über 200 Gästen aus Politik, Medien, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft sehr erfolgreich. Bei diesen ging es um „Ideen und Impulse für die Kultur des Zusammenlebens“, um „Werte in der postmodernen Gesellschaft“ und „Die Wahrnehmung des Anderen“.

• Eine weitere wichtige Veranstaltungsreihe stellen die „Reflexionen“ dar. Hier laden wir hochkarätige Experten ein, mit denen wir zentrale Themen unserer Gesellschaft analysieren und diskutieren. Mit diesen Diskussionsrunden erhoffen wir uns eine neue Form der Diskussion zu entwickeln und so Ideen und Impulse für eine neue Kultur des Zusammenlebens zu gestalten. Diese finden zwei- dreimal im Monat statt. Die Themen reichen von Politik, Wirtschaft, Kultur, Kunst bis Religion.

• Neben diesen Veranstaltungen gab es zahlreiche Konferenzen. Wir haben den Blick auf ein Kapitel der Geschichte gelenkt, das allzu oft vergessen wird. 1000 deutschsprachige Wissenschaftler, Architekten, Techniker, Künstler und einige Handwerker samt ihrer Familien flohen nach der Machtergreifung der Nazis in die damals noch junge türkische Republik. Anders als in allen anderen Zufluchtsländern waren die Emigranten in Istanbul und Ankara in der Lage, sofort wieder der Arbeit nachzugehen, die sie in Deutschland aufgegeben hatten. Die Regierung hat sich gegen den Druck der Nazis gestemmt, die Emigranten auszuweisen. Viele von ihnen blieben auch nach dem Krieg, manche nahmen sogar die türkische Staatsbürgerschaft an. Über dieses Thema haben wir mit Politikern und Wissenschaftlern diskutiert.

• In einer weiteren Konferenz haben wir über Jerusalem diskutiert. Jerusalem, die goldene Stadt auf dem Berg, die heilige Stadt der drei Religionen, Juden-tum, Christentum und Islam. Mit dieser Stadt sind über Jahrtausende Mythen, Symbole, Sehnsüchte und gläubige Hoffnungen verbunden. Mit Vertretern der Religionen haben wir Lösungen für dortige Konflikte zu finden. Bezeichnend war dabei die Bemerkung eines Teilnehmers, der sagte, dass er zum ersten Mal von einer Konferenz über Jerusalem mit der Hoffnung auf Frieden nach Hause geht.

Der Dialog verdeutlicht vor allem folgendes: Das bloße Zusammenleben und der Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern führen nicht automatisch dazu, dass man sich besser kennen lernt und sich über kulturelle Unterschiede und Gemein-samkeiten austauscht. Ebenso wenig entstehen die Verständigungsprobleme zwi-schen den Kulturen allein durch die Konfrontation mit dem Fremden, sondern eher durch Vorurteile und Fehlinterpretationen.

Damit es zu einem positiven Kontakt, zu gegenseitigem Verständnis und zur Akzeptanz kommen kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt werden. Auf der persönlichen Ebene gehören hierzu sprachliche Verständigungsmöglichkeiten, Interesse und Offenheit für neue Erfahrungen sowie ein möglichst geringes Ausmaß an Vorbehalten. Auf der gesellschaftlichen Ebene benötigt man ein Klima des Respekts und der gegenseitigen Anerkennung. Dieses Klima erreicht man am besten durch Freundschaften. Genau hierum geht es beim Dialog.

3.4. Die Bewegung und ihr soziales Kapital

Migrantenselbstorganisationen können als zivilgesellschaftliche Akteure einen wichtigen Beitrag zur Integration erfüllen. Zum einen bilden sie soziale Netzwerke, die mit ihrem Selbsthilfeansatz den Integrationsprozess unterstützen können, zum anderen beeinflussen sie die soziale Orientierung der Zuwanderer: „Sie können die Akzeptanz für Integrationspolitik innerhalb der ethnischen Gruppen wesentlich stärken und Interesse an Integrationsmaßnahmen wecken“. Vor diesem Hintergrund wird es in Zukunft entscheidend darauf ankommen, das Potenzial der Selbstorganisationen und die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement von Migranten stärker für die Förderung von Integrationsprozessen nutzbar zu machen.
Die Beschäftigung mit sozialen Netzwerken und Bewegungen hat in den vergange-nen Jahren durch die Diskussion über soziales Kapital erheblich zugenommen. Das häufige Auftreten von Begriffen wie „soziales Engagement“, „Bürgergesellschaft“ etc. betonen die gesellschaftliche Relevanz des Sozialkapital-Konzeptes. Gleichzeitig wird oft danach gefragt, wie sich die Einrichtungen, die der Gülen-Bewegung nahestehen finanziert und wo das Sozialkapital herstammt. In diesem Kapitel soll daher Sozialkapital Theorie und die Gülen-Bewegung betrachtet werden.

Durch die Einbindung von Menschen in Netzwerke oder Bewegungen entsteht soziales Kapital. Dieses soziale Kapital stellt für den Einzelnen und für ein Kollektiv Ressourcen zur Verfügung, die wiederum bestimmte Handlungen erleichtern bzw. erst ermöglichen. Durch diese Ressourcen entsteht für ein Individuum und auch für die Gesellschaft ein Gewinn. Die Höhe dieses Gewinns hängt von der Größe des Netzwerkes ab.
Nachdem Sozial Kapital in seiner Geschichte wiederholt aus unterschiedlichen Be-weggründen neu definiert wurde, haben sich bei neueren Schriften Gemeinsamkeiten herausgebildet, die es gestatten, die einzelnen Theorie-Stränge zusammenzuführen. In diesem Kontext wird Sozialkapital als Netzwerkphänomen angesehen. Es entsteht und vergeht innerhalb von sozialen Beziehungen. So kann sie als Ressource aufgefasst werden, die es einem Akteur ermöglicht, sowohl für sich selbst als auch für die Gruppenmitglieder positive Auswirkungen zu erzielen. Bei den Aktivitäten der Gülen-Bewegung geht es insbesondere um den Profit für die gesamte Gesellschaft. Auch politische Ziele strebt sie nicht an. „Sie will nicht über politische Macht eine “bessere Ge¬sellschaft” schaffen, sondern von unten in der Gesellschaft durch Bildung und Tole¬ranz dem Menschen dienen.”

Da nahezu jeder Teil eines sozialen Beziehungssystems ist, entsteht Sozialkapital häufig als Nebenprodukt von alltäglichen Beziehungen. Es ist zwar möglich, individuelle Beziehungen absichtsvoll zu mobilisieren, da Netzwerke und Gruppenzugehörigkeiten aber eher einem Grundbedürfnis menschlichen Zusammenlebens entstammen, entwickeln sich positive Auswirkungen aus Gruppenzugehörigkeiten meist nebenbei. Die Höhe des verfügbaren Sozialkapitals kann zum einen an der Größe des Netzwerkes abgelesen werden und zum anderen an der Verschiedenheit der darin befindlichen Mitglieder, also dem spezifischen Aufbau des Netzwerkes. Die Idee hinter letzterem ist, dass Beziehungen zu Menschen aus möglichst unterschiedlichen Bereichen die positiven Ergebnisse aus einer Gruppenzugehörigkeit erhöhen. Die Mitgliedschaft in Vereinen und Kontakte am Arbeitsplatz schaffen wichtige Beziehungen, um beispielsweise neues, dem eigenen Netzwerk fremdes Wissen zu erlangen, andere Sichtweisen zu erlernen und vieles mehr.
Neben der Zugehörigkeit zu Netzwerken und Gruppen spielt das Vertrauen in eine Gruppe eine wichtige Rolle. Der ursprünglichen Sozialkapital-Theorie zu folge, nutzt der Einzelne die Möglichkeit, Hilfeleistungen zu geben, da er darauf vertrauen kann, in der Zukunft von seiner Hilfeleistung zu profitieren und sei es nur in Form von Anerkennung. Da jedoch Ikhlas, also die Reinheit der Absicht, eines der wichtigsten Konzepte in der Gülen-Bewegung ist, geht es ihren Ehrenamtlichen nur um die Anerkennung Gottes. „Ein Diener Gottes darf ausschließlich Seine Anerkennung und Sein Wohlgefallen anstreben. Das Herz dieses Dieners darf sich ausschließlich mit Ihm beschäftigen“. Vertrauen ist also eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren von Sozialkapital. Das Vertrauen von Menschen in die Gülen-Bewegung und ihre Aufrichtigkeit bei ihren Aktivitäten ist der wesentliche Grund dafür, dass verschiedenste Sympathisanten der Bewegung Kapital spenden und sich engagieren.

Eins der wesentlichen Prinzipien der Bewegung ist daher das des Wirkens oder des Sich-Engagierens. Ein Mensch, der den ganzen Tag im Bett liegt und keinerlei Aktivitäten unternimmt, ist daher weniger glücklich als jemand, der ständig beschäftigt ist und sich immer bemüht, etwas für die Gesellschaft zu tun. Die Gülen Bewegung aktiviert Menschen und motiviert sie dazu anderen Menschen zu dienen. Das soziale Engagement und die Spenden sind wichtige Faktoren für den Erfolg der Gülen-Bewegung. Neben den normalen Mitgliedsbeiträgen der einzelnen Vereine gibt es spezifische Formen der Zuwendung.

In diesem Zusammenhang nimmt die Zakat (die Armensteuer) als eine der fünf Säulen des Islam eine ganz besondere Stellung ein und im Koran sehr häufig zusammen mit dem regulären Gebet (Salah) erwähnt wird, was auf die Wichtigkeit hinweist. Zakat bedeutet auch Reinigung und ist eine Reinigung für den Gläubigen und seinen Besitz. Hierzu gibt er 2,5 % seines Besitzes ab. Jeder Muslim, dessen finanzielle Verhältnisse sich über einem festgesetzten Minimum bewegen, muss jährlich von seinem Vermögen einem unterstützungswürdigen Mitbürger oder einer Institution, die den Menschen dient, spenden. Dies ist allerdings das Minimum. Je mehr man spendet, desto größer wird die Belohnung sein, die Gott einem im Jenseits zukommen lassen wird. Wenn die Armensteuer gespendet wird, so tun sie das nicht etwa, weil Gott dieses Geld braucht oder gar bekommt. Er ist über jedes Bedürfnis erhaben und steht über jeglichem Verlangen. Doch verspricht er ihnen in Seiner liebevollen Barmherzigkeit vielfache Belohnung, wenn sie den Menschen in dieser Form helfen. Die unerlässliche Voraussetzung für eine solche Belohnung ist jedoch, dass sie bei der Bezahlung der Zakat im Namen Gottes für ihre Wohltaten keinerlei weltliche Vorteile erwarten oder fordern. Die Sympathisanten der Bewegung, die diese Armensteuer zahlen müssen, lassen diese der Bewegung zu kommen. Dies ist das Zeichen ihres Vertrauens. Erwähnenswert ist außerhalb dieser Armensteuer auch Sadaqa. Es bezeichnet eine wohltätige und freiwillige Abgabe. Dieser Wortbedeutung nach prüft Allah die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit der Gläubigen Ihm gegenüber. Damit die Person, die das Sadaqa bekommt sich nicht schämt, sollte man Bedürftigen geheim spenden. Das öffentliche Spenden dieses Almosen ist dann gut, wenn man andere mit seiner Verhaltensweise anspornen will.

Diese finanziellen Zuwendungen und Spenden werden in der Bewegung als Himmet bezeichnet. Sie erlauben es der Bewegung Schulen, Dialogaktivitäten und Projekte zu finanzieren und so einen Beitrag für den Frieden auf der Welt zu leisten. Dabei steht nicht die Menge des gegebenen im Vordergrund, sondern das Spenden für einen guten Zweck selbst. Die Höhe der Spende hat daher keinen Einfluss auf das Mitspracherecht in der Bewegung. Hier sind alle, die sich engagieren und spenden gelichberechtigt.
Diese Zuwendungen werden öffentlich in einem sog. Himmet Treffen, dass die Ver-eine mit ihren Mitgliedern durchführen, entgegengenommen. Unternehmer und Geschäftsleute werden eingeladen und wetteifern um Spenden. Dabei geht es um die Verfolgung der Interessen oder des Wohls anderer oder des Gemeinwohls. Diesen Altruismus stellt Gülen als einen der wichtigsten Prinzipien dar.
Durch diese Prinzipien motiviert Gülen die Ehrenamtlichen und Freiwilligen dazu, sich für die Gesellschaft, in der sie Leben zu engagieren und zu versuchen ihre Probleme zu lösen. Er motiviert sie, dass Land in dem sie Leben und die Bevölkerung zu lieben. Diese gesamtgesellschaftliche Partizipation und die Anerkennung und Liebe der Mehrheitsgesellschaft sind wichtige Voraussetzungen für Integration.

4. Fazit

Schwierig für das Zusammenleben wird es, wenn Anhänger verschiedener Religio-nen in einem dicht besiedelten Land leben und es bisher nicht gewohnt waren, miteinander zu leben. Jede Religion hat schließlich den Anspruch, wahr zu sein. Wenn die Religionen verschiedene Antworten auf die gleichen Fragen geben und dazu noch unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten dieser Antworten hinzutreten, ist das nicht weiter ungewöhnlich. Es kann aber zu sehr verschiedenen Auffassungen führen, nach welchen Regeln sich das zivile Zusammenleben vollziehen soll. Religiöse Heterogenität kann dann dazu führen, dass unsere Gesellschaften konfliktreicher werden. Sie kann also zur Herausforderung werden für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist in der europäischen Geschichte nicht neu, gerade wenn wir die Geschichte der Reformation und des Verhältnisses von Katholizismus und Protestantismus in Deutschland betrachten. Angesichts dieser Jahrhunderte dauernden historischen Entwicklungen, sollten wir nicht erwarten, dass wir in Deutschland Probleme im Zusammenleben in ein oder zwei Jahren regeln könnten. Ein wenig mehr Bescheidenheit und Geduld ist vonnöten.

Wir erleben derzeit die Debatten um den Bau und Betrieb von Moscheen oder das Kopftuch. Diese Konflikte wirken sich auf die Wahrnehmung der Muslime in Deutschland aus, aber auch auf die des Islam insgesamt. Und so haben wir eine widersprüchliche Situation. Die meisten Menschen in Deutschland denken inzwischen recht positiv über die Integration der nach Deutschland kommenden Zuwanderer. Beim Stichwort Islam aber denken sie selten an positive Werte wie Friedfertigkeit oder das Streben nach Gerechtigkeit. Sie verbinden mit dem Islam eher die Benachteiligung von Frauen, Rückwärtsgewandtheit, Fanatismus, Intoleranz und Demokratiefeindlichkeit.

Ein Grund dafür sind Extremisten und Fundamentalisten, die sich auf den Islam berufen. Aber dies gibt es in anderen Religionen auch. Diese machen zwar nur eine sehr kleine Gruppe unter den Muslimen aus, aber sie prägen maßgeblich das Bild des Islams im Westen. Das beruht natürlich auch zum Teil auf einer medialen Verzerrung. Es ist aber auch so, weil die Öffentlichkeit eine deutlichere Abgrenzung von Extremisten und ein aktiveres Engagement islamischer Organisationen für unseren freiheitlichen Verfassungsstaat zu lange doch auch vermisst hat. So entsteht eine Unsicherheit, mit der die Menschen in Deutschland dem Islam begegnen. Die Gülen-Bewegung baut Brücken zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft.
Gülen befürwortet die Demokratie und spricht sich für eine pluralistische Gesellschaft als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen aus. Dies ist für Muslime, die in demokratischen Staaten Leben essentiell. Er setzt sich für Toleranz gegenüber Andersdenkenden und den interreligiösen Dialog ein und hat sich in der Vergangenheit schon mit Papst Johannes Paul II. sowie führenden Rabbinern getroffen, während Bin Laden für ihn wie ein Monster ist. Die Bewegung ist weder institutionalisiert noch ist sie politisch. Sie beabsichtigt nicht durch Politik ihr Ziel einer besseren Gesellschaft zu erreichen, sondern will durch Bildung und Toleranz der Gesellschaft dienen. In diesem Sinne ist auch Gülens Aussage “Schimpft nicht auf die Dunkelheit, sondern zündet eine Kerzen an” zu sehen. Da im Vordergrund die Freiwilligkeit steht nennt sich die Bewegung auch “Gönüllüler Hareketi”, also Bewegung der Freiwilligen.
Gülens Anhänger tragen diese Ideen auch nach Deutschland und in die gesamt Welt. Die Freiwilligen in Deutschland und in der Türkei stammen größtenteils aus der neuen Mittelschicht. Insbesondere Akademiker, die sich mit den Ansichten Gülens identifizieren schließen sich ihr an. Mit seiner Betonung von Arbeit, Selbstdisziplin und Sparsamkeit spricht er vor allem Groß- und Kleinunternehmer an, die ihren beruflichen Aufstieg mit einem pragmatischen Glauben in Einklang bringen wollen. Sie beschäftigen sich mit lokalen Projekten in Deutschland und sind dabei häufig ehrenamtlich tätig. Sie sagen, Arbeit sei eine der höchsten Formen von Gottesdienst.

Gülen verbindet traditionelle Frömmigkeit mit der Moderne versöhnt islamische Glaubenssätzen mit technisch-naturwissenschaftlichem Fortschritt. Die säkulare Staatsordnung der Türkei und die Universalität der Menschenrechte stellt Gülen nicht in Frage. Ländern die eher einen politischen Islam vertreten, setzt er den anatolischen Islam entgegen, der sich durch Toleranz und Religionspluralismus auszeichnet. Gegen einen Islam von oben, der vom Staat erwartet, eine konservativ-islamische Moral durchzusetzen, spricht sich Gülen für einen Islam von unten aus. Die Gebote des Islam sind für Gülen etwas, das Muslime aus innerem Antrieb befolgen sollten, statt sie anderen Menschen aufzuzwingen.
Dem Bildungsideal der Bewegung verpflichtet zeigen sich die Privatschulen, Internate, Nachhilfeeinrichtungen, Dialogvereine und Studentenwohnheime, die weltweit mit Spendengeldern und von wohltätigen Stiftungen finanziert werden. Seine Gegner werfen Gülen vor, er wolle damit eine fromme Elite heranzüchten, um so eines Tages die Macht im Staate zu übernehmen. Diese ist ein völlig unberechtigter Vorwurf, zumal Gülen in keiner seiner Predigten oder Schriften davon spricht. Ganz im Gegenteil spricht er sich dafür aus, auf sämtliche Art von Belohnung und Macht zu verzichten.

Hinzukommt, dass Gülen von dem Vorwurf, er fordere seine Anhänger zur Unter-wanderung des Staates auf, freigesprochen wurde. Aus gesundheitlichen Gründen kann er allerdings nicht in die Türkei zurückkehren.
Zuletzt möchte ich praktisch verdeutlichen warum für Muslime in Deutschland die Lehren Gülens wichtig sind. Gülen, als ein islamischer Intellektueller, ruft dazu auf, andersgläubige Menschen zu lieben, mit ihnen Freundschaften zu schließen und mit ihnen Dialoge aufzubauen. Der Schulkamerad ist so nicht ein Ungläubiger, sonder ein bester Freund. Der Nachbar ist nicht ein Fremder, sondern ein guter, liebenswürdiger Mensch. Der Staat in dem man lebt ist nicht ein Feind, sondern die Heimat, in der man lebt. Die Demokratie ist nicht ein System, dass gestürzt werden muss, sondern die Regierungsform. Terror und Gewalt sind nicht Methoden des Islam, sondern seine Gegner. Bin Laden ist kein Held, sondern ein Monster. Eine derartige Perspektive fördert die Integration und das friedliche Zusammenleben nicht nur in Deutschland, sonder überall dort, wo Menschen unterschiedlichen Glaubens

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