Donnerstag, 7. April 2011

Die Streber Allahs

Eine weltweite muslimische Bewegung propagiert den großen Bildungsaufbruch – und baut in Deutschland Schulen auf

Dschihad kann vieles heißen. Heiliger Krieg, strebendes Bemühen, glühende Frömmigkeit. Für Fethullah Gülen bedeutet das Schlüsselwort des Islams vor allem eines: Bildung. »Baut Schulen statt Moscheen«, ruft der Meister seinen Anhängern zu. »Unser großer Dschihad ist die Bildung.« Und Millionen Muslime folgen ihm. Mit großem Eifer lernen sie nicht nur die Suren des Korans, sondern Mathematik und Englisch, Physik und Deutsch. In Deutschland kennt den geistlichen Führer bislang kaum jemand.

Dabei hat er ein muslimisches Massenphänomen angeschoben. Wann immer derzeit Türken irgendwo auf der Welt eine Schule eröffnen, einen Kindergarten oder eine Nachhilfeeinrichtung, ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn zurückzuführen, den Hocaeffendi, den »verehrten Lehrer«: Fethullah Gülen.
Was ist das für ein Prediger, für den der ärgste Feind des Islams nicht der Unglaube ist, das Christentum oder gar die USA, sondern die eigene Ignoranz der Muslime? Und was bewegt Gülens Anhängerschaft, die als Gruppe ebenso einflussreich wie schwer greifbar ist? Die Fethullahcis, wie man sie nennt, vereinen scheinbar Gegensätzliches: Sie sind fromm und interessieren sich für moderne Wissenschaft, Medien und Ökonomie. Sie folgen einerseits treu dem Koran, predigen andererseits den Dialog mit anderen Religionen und die Integration in ihren neuen Heimatländern. Doch obwohl die Bewegung mittlerweile Millionen Anhänger zählt, verbindet sie keine Organisation, keine offizielle Gemeinde, sondern nur das Denken ihres Meisters (siehe Kasten). Was steckt hinter diesem muslimischen Aufbruch?

Die Antworten kann man in Istanbul oder Ankara suchen, in Sydney, New York, in Stuttgart, Hannover – oder in Berlin-Spandau. Dort, auf einem ehemaligen Kasernengelände der britischen Armee, steht heute das Tüdesb-Gymnasium, eine jener Privatschulen, die sich unter bildungsbewussten Deutschtürken wachsender Beliebtheit erfreuen. Mehr als neunzig Prozent der Schüler stammen hier aus Migrantenfamilien – so wie zum Beispiel Seynab Sarris, die vor zwei Jahren von einer staatlichen Schule kam. »Meine damaligen Lehrer hatten mich aufgegeben«, sagt sie. Sieben Fünfen verunzierten ihr Zeugnis. Heute ist ihre schlechteste Note eine Drei, und Seynab ist Schulsprecherin. Begeistert schwärmt sie vom Tüdesb-Gymnasium. Klein seien die Klassen, selten lernten mehr als 15 Schüler in einem Raum. Und wer im Unterricht etwas nicht verstanden habe, könne bei der Hausaufgabenbetreuung nachfragen. Dafür nimmt sie einiges in Kauf: Anderthalb Stunden fährt die 17-Jährige quer durch Berlin zu ihrer »Traumschule«. Und als ihre Mutter das Schulgeld nicht bezahlen konnte, ging sie selbst jobben.

Am Tüdesb-Gymnasium hört man viele solcher Geschichten. Die Schule ist eine von einem Dutzend ähnlicher Einrichtungen in Deutschland. Fast alle gehören zur Gülen-Bewegung, und fast alle berichten von reger Nachfrage. Wenn in diesen Tagen an der Berliner Tüdesb-Schule die Aufnahmegespräche beginnen, werden wohl wieder auf jeden Platz drei Bewerber kommen – trotz Gebühren von rund 4000 Euro im Jahr.
Seit Mitte der achtziger Jahre gründen die Fethullahcis im großen Stil private Oberschulen und Universitäten. Erst in der Türkei, später auf dem Balkan, in den Nachfolgestaaten des Sowjetreiches, dann auf allen anderen Kontinenten. Viele Absolventen schafften es auf die besten Universitäten ihres Landes – und gründeten wieder neue Schulen. In Berlin und anderswo begannen die Gülen-Anhänger mit Hausaufgabenbetreuung. Später kamen Kindergärten hinzu, dann Schulen. Heute verfügt das Tüdesb Bildungsinstitut Berlin-Brandenburg über vier Kitas, sechs Nachhilfezentren sowie jeweils ein Gymnasium, eine Grund- und Realschule in der Hauptstadt. Der Verein bietet Integrationskurse und Elternschulungen an. Erst kürzlich kamen 500 deutsch-türkische Mütter und Väter im Audimax der TU Berlin zusammen, um etwas über die »10 häufigsten Fehler der Erziehung« zu lernen.

Obwohl die Gülen-Bewegung mittlerweile weltweit für Bildungsehrgeiz und hohe Lernqualität steht, spielt die Person von Fethullah Gülen im Alltag der Lerneinrichtungen so gut wie keine Rolle. An der Spandauer Schule sagt nicht einmal sein Name den Schülern oder den meisten Lehrern irgendetwas. Und wer im Gymnasium ein Bild des Mannes vermutet, kann lange suchen. »Wir sind keine Bekenntnisschule«, sagt Schulleiterin Sabrina Leberecht bestimmt und führt den Besucher durch Gänge und Klassenzimmer. Hier hängen keine Koranverse, sondern Gedichte von Hesse und Kästner sowie binomische Formeln. Auf dem Schulhof bewerfen sich Mädchen mit Schneebällen, einige tragen ein Kopftuch, andere, wie Schulsprecherin Seynab, nicht.
Wie fast alle ihre Kollegen unterrichtete Leberecht zuvor an einer Regelschule. Dass die Unterrichtssprache am Tüdesb-Gymnasium Deutsch ist, »das versteht sich von selbst«, sagt sie. Aber der Sportunterricht? »Da trennen wir von Klasse sieben bis zehn Mädchen und Jungen«, sagt die Schulleiterin und fügt hinzu: »Wie in vielen Berliner Schulen.« Religionsunterricht steht für die 300 Schüler übrigens nicht auf dem Lehrplan, dafür Ethik. An dem Gymnasium, das in Mannheim zur Gülen-Bewegung gehört, lehrte das Fach bis vor Kurzem gar ein evangelischer Pfarrer.

Früher haben die Schulen jede Beziehung zur Gülen-Bewegung bestritten und jedem, der anderes behauptete, mit Klage gedroht. In der Türkei, wo lange Zeit nur der offizielle Staatsislam erlaubt war, haben die Gülen-Anhänger gelernt, sich bedeckt zu halten. In Deutschland fürchten sie Vorbehalte gegen alles Muslimische und kaschieren bislang auch hier ihre religiöse Herkunft. Das allerdings hat das Misstrauen gegen sie eher noch weiter angefacht. Als die Berliner Tüdesb-Schule gegründet wurde, gab es Anfragen beim Senat und Journalistenanrufe beim Verfassungsschutz. Doch niemand konnte Negatives berichten.

Nun möchte die junge Generation der Bewegung die Verschleierungstaktik beenden. Im vergangenen Jahr hat sie mit der Universität Potsdam einen großen wissenschaftlichen Kongress zu Gülens Werk und Wirken organisiert. Abgeordnete von CDU bis Linke waren als Gäste geladen, ebenso der Berliner Rabbinerausbilder Walter Homolka. Es war das Coming-out der Fethullahcis in Deutschland.
Ja, er fühle sich Gülens Idealen nahe, sagt Irfan Kumru, der seit einigen Monaten die drei Tüdesb-Privatschulen in Berlin koordiniert. Regelmäßig liest er die Werke des Predigers. Darin steht zum Beispiel, dass nicht allein Beten oder die Befolgung religiöser Regeln ein gottgefälliges Leben ausmache, sondern der Dienst an der Gemeinschaft. »Für Ausdauer und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt; die Strafe für Trägheit ist Mittellosigkeit«, schreibt der Prediger. Gleichzeitig fordert er seine Anhänger auf, sich ständig zu perfektionieren, am besten durch Bildung. Bevor Irfan Kumru dem Ruf in die Hauptstadt folgte, hat der Mittdreißiger in Mannheim geholfen, Nachhilfezentren und eine Schule aufzubauen, nach deutschen Vorschriften und dem baden-württembergischen Lehrplan.

»Eigentlich sind wir eine ganze normale deutsche Schule«, sagt die Berliner Rektorin Leberecht. Ganz stimmt das freilich nicht. Wie in der Türkei ist eine Schuluniform Pflicht, in Spandau trägt man Blau und Weiß. Auch wird man an deutschen Schulen keine im Flur ausgestellten Fotos der »Schüler des Monats« finden, die sich durch besonderen Fleiß ausgezeichnet haben. Der größte Unterschied aber fällt schnell ins Auge: Hier sind junge Deutschtürken unter sich. Von den 300 Schülern haben gerade einmal sechs deutschstämmige Eltern.
Schulkoordinator Irfan Kumru beugt dem naheliegenden Vorwurf gleich vor: »Wir wollen keine Parallelgesellschaft aufbauen.« Die Schule solle eine Brücke sein in die deutsche Gesellschaft, keine Insel. Von Beginn an wurden Kinder aus deutschen Familien bevorzugt aufgenommen. Sie müssen sogar weniger Schulgeld bezahlen. Multikulti ist daraus dennoch nicht geworden. Schon die zweite Fremdsprache, Türkisch, schreckt deutsche Eltern ab.

Die deutsche Schulleiterin kann der Monokultur aber auch Vorteile abgewinnen. »Die Schüler finden bei uns einen geschützten Raum, aus dem sie gestärkt herauskommen«, sagt Leberecht und verweist auf die Ergebnisse: 27 von 32 Schülern haben im vergangenen Jahr den Sprung in die Oberstufe geschafft, obwohl viele von ihnen keine Empfehlung für das Gymnasium hatten. Die Ergebnisse des mittleren Schulabschlusses fielen weit besser aus als in anderen Schulen mit vielen Kindern aus Einwandererfamilien. Zunehmend mehr deutsch-türkische Eltern scheint der Erfolg zu überzeugen. Denn auch sie kennen die Pisa-Befunde, nach denen sich die Herkunft eines Schülers in Deutschland besonders stark auf seine Leistungen auswirkt.
Kamil Kan hat drei Kinder auf dem Privat-Gymnasium, eine Tochter auf einer staatlichen Schule. »Bei Tüdesb bekommen unsere Kinder einfach mehr Hilfe«, sagt der deutsch-türkische Geschäftsmann. Etwa zusätzliche Deutschstunden, eine individuellere Betreuung und Unterricht bis zum Nachmittag. Dass Gülen die Schulgründer beseelt, weiß Kan. Es interessiere ihn aber nicht besonders, sagt er. Wichtig ist dem Vater dagegen die »Ethik des Zusammenlebens« an der Schule, wie er sagt. Tatsächlich fällt die ruhige und freundliche Atmosphäre auf. Betritt man als Gast einen Klassenraum, springt gleich jemand auf und bietet einen Stuhl an.

Kamil Kan, der mit seinen Lebensmittelläden zu etwas Wohlstand gekommen ist, lässt sich die guten Zeugnisse seiner Kinder etwas kosten. Zusätzlich zum Schulgeld spendet Kan regelmäßig. Zum Beispiel für das neue naturwissenschaftliche Labor. 600.000 Euro haben die Fachräume nach dem modernsten Standard gekostet, ein großer Teil der Summe stammt von Eltern und Geschäftsleuten. Eine deutsch-türkische Baufirma zum Beispiel hat umsonst die Mauern hochgezogen.

»Wir mobilisieren das türkische Sozialkapital«, sagt Irfan Kumru. Früher haben seine Landsleute jeden überzähligen Geldschein in die Türkei geschickt, um Häuser zu bauen oder Autos zu kaufen. Heute investieren aufstiegsorientierte Deutschtürken verstärkt in die Ausbildung ihrer Söhne und Töchter. Sie wissen, dass ohne einwandfreie Deutschkenntnisse und gute Schulabschlüsse niemand in Deutschland eine Zukunft hat. Dabei verbessert die Freigebigkeit der Eltern nicht nur die Chancen der eigenen Kinder im Diesseits, sondern ebenso das eigene Konto der guten Taten im Himmel. Jeder gute Muslim soll der Lehre des Islams zufolge einen Teil seines Einkommens abgeben. Da sie langfristig wirken, werfen Spenden für Bildung bei Allah besonders hohe Zinsen ab.

Ohne diese Werkethik lässt sich die Gülen-Bewegung nicht verstehen, weder das Engagement ihrer Anhänger noch deren weltweite Verbundenheit untereinander. »In welches Land ich auch reise, ich finde immer jemanden, der mir hilft«, sagt Dastan Jalilov, der vor zehn Jahren aus Kirgistan zum Studium nach Deutschland kam. Ein paar Habseligkeiten und eine Telefonnummer in Berlin brachte er mit. Er hatte sie von einem Bekannten aus Kirgistan erhalten. Dass auch er zum Gülen-Netzwerk gehört, verstand er erst später. Jalilov rief die Nummer an, lernte neue Freunde kennen und zog in eine Kreuzberger WG. Hier blieb der Politikstudent die nächsten Jahre. Und das nicht nur, weil die Miete nur hundert Euro betrug. Auch das gemeinschaftliche Leben mit den Mitbewohnern, alle wie er Muslime, gefiel dem jungen Mann.
Die Studenten-WGs gehören zum inneren Kern der Gülen-Bewegung. Hier rekrutiert sie ihre Führungsleute, hier findet die religiöse Unterweisung statt. Lichthäuser heißen sie, circa zwei Dutzend gibt es in Berlin, für Männer und Frauen getrennt. Bisher waren diese Wohngruppen eine verschlossene Welt. Jetzt hat Kristina Dohrn, eine Studentin an der Berliner Humboldt-Universität, für ihre Abschlussarbeit erstmals Zugang gefunden.

Für Verschwörungstheorien, die sich um diese WGs bisher rankten, bieten ihre Recherchen wenig Stoff. Stattdessen traf Dohrn auf eine gottesfürchtige, konservative Welt, in der man gemeinsam lebt, lernt und fünfmal am Tag betet. Alkohol ist tabu, Damen- beziehungsweise Herrenbesuch ebenso. Und um zwanzig Uhr sollte jeder zu Hause sein. Dann liest man den Koran, die Werke Gülens und diskutiert, was die Worte des Meisters für das eigene Tun bedeuten.

»Gülen hat mir gezeigt, wie ich als frommer Muslim in einer westlichen Gesellschaft leben kann«, sagt Jalilov. Mittlerweile hat der 29-Jährige seine WG verlassen, eine glaubensfeste Muslimin geheiratet und einen guten Job gefunden. Im Bezirk Wedding leitet er ein Bildungszentrum. Jeden Tag, auch sonnabends, kommen 130 Jugendliche für zwei bis vier Stunden in die hellen, mit Teppich oder Parkett ausgelegten Räume. Sie machen Hausaufgaben, lernen für Klausuren, bereiten sich auf das Abitur vor. »Wer sich durch besonderen Fleiß auszeichnet, erhält Einzelstunden als Belohnung«, sagt Dastan Jalilov. Der Name des Arbeitgebers hängt in großen Lettern im Flur: Tüdesb.

Copyright: DIE ZEIT, 18.02.2010 Nr. 08
Adresse: http://www.zeit.de/2010/08/Deutsch-Tuerkische-Privatschulen


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