Dienstag, 21. Juni 2011

Das Gümnasium wird riesig


Türkischer Bildungsunternehmer



Von Jonas Nonnenmann

Schwäbisches Integrationsvorbild: Lernen an der "Türkenschule"
Fotos
Jonas Nonnenmann
Zwei von drei Absolventen haben türkische Wurzeln, alle packen den Realschulabschluss, viele schaffen danach das Abi. Doch wie andernorts kämpft auch Muammer Akins private "Türkenschule" mit Ressentiments. Dabei zeigt das Projekt, wie dank intensiver Betreuung Integration gelingen kann.

Der Bauherr steht morgens im Stuttgarter Gewerbegebiet und zeigt auf das Loch, das vor ihm klafft. In der einen Hand flattert ein Bauplan, mit der andere malt er Rechtecke in die Luft. "Es wird riesig", sagt er andächtig. Hier der Hauptflügel, da der Pausenhof, ganz hinten die Turnhalle.

Der Mann sieht aus wie ein reicher Cousin von Cem Özdemir: südländisches Gesicht, Kotelettenansatz, Nadelstreifenanzug. Muammar Akin ist 41 Jahre alt und er hat in Stuttgart das "Bildungshaus" gegründet, kurz "Bil". Es ist eines der wenigen Gymnasien in Deutschland, das vor allem von Kindern türkischer Einwanderer besucht wird.
Im Bil sitzen knapp 300 Schüler in einzügigen Gymnasial- und Realschulklassen, und es werden Jahr für Jahr mehr - trotz der 270 Euro Schulgebühren pro Monat. "Das Türkengymnasium" lautete der Titel eines SWR-Beitrags. Akin mag ihn nicht, weil er andeutet, die Einrichtung habe etwas mit dem türkischen Staat zu tun. "Wir sind eine deutsche Schule", sagt er, es gibt weder Türkisch noch Religion als Fach. Und: Nur drei Lehrer haben türkische Wurzeln, die Mehrheit sind Deutsche.
Das jetzige Gebäude sieht aus wie der vernachlässigte Ableger einer Volkshochschule. Innen wirkt es freundlicher: Im Eingang hängen kleine Länderflaggen, Puzzlesteine zeigen den Stand der Spenden für den Neubau an. 650 Schüler erwartet Akin dort, mehr als doppelt so viele wie bisher.

"Hier traut sich keiner, um die Ecke zu rauchen"

Im Bil bekommt jeder eine Chance. Hier die Neuntklässlerin mit knallgrünem Kopftuch und Lippenstift, die von Heilbronn pendelt und jeden Tag zwei Stunden im Zug sitzt. Dort der Zehntklässler, der seine alte Schule verließ, weil er gemobbt wurde.

"Hier kennt jeder jeden", sagt Cengizhan, 16, gegelte Haare, sanfte Stimme. "Deswegen traut sich auch keiner, um die Ecke zu rauchen. Das würde sich rumsprechen." An seiner alten, staatlichen Schule sei vieles anders gewesen. Da hätte es viele Lehrer kaum interessiert, ob alle verstehen, was sie vorn an der Tafel erzählten.

Im Bil stört ihn nur eine Sache: "In den Klassen wird zu viel Türkisch geredet." Da nützten auch die zehn Cent nichts, die jeder pro Wort in die Klassenkasse werfen muss.

"Der Daimler ruft doch auch seine Autos zurück, wenn ein Fehler drin ist"

Der Unterricht folgt dem staatlichen Lehrplan, aber er bietet mehr: Kleinere Klassen, Hausaufgabenbetreuung und ein kluges Nachhilfesystem. Schreibt ein Schüler eine Fünf, haben die Lehrer sich zu fragen, wie das passieren konnte. War es kein Ausrutscher, gibt es kostenlos Nachhilfe von einem anderen Pädagogen.

"Wir leisten, was an staatlichen Schulen die Aufgabe der Eltern ist", sagt der pädagogische Leiter Manfred Ehringer. Es könnten nunmal nicht alle Mütter und Väter beim Lernen helfen - auch wenn ihnen der Erfolg ihrer Kinder wichtig sei. Ehringer ist 79, aber er redet mit dem Elan eines Referendars. Früher leitete er das Stuttgarter Schulamt, war für Versuchsschulen zuständig. Heute experimentiert er selbst.
"Es reicht nicht, zu sagen: Ich hab' den Stoff doch durchgenommen", kritisiert Ehringer. Lehrer müssten auch für Schüler da sein, die einen Hänger haben, das Schulsystem sei für deren Erfolg verantwortlich. "Der Daimler ruft doch auch seine Autos zurück, wenn ein Fehler drin ist." Im Bil überwacht Ehringer in diesem Sinne selbst die Produktion, schaut sich jede Klassenarbeit an, bevor sie ausgeteilt wird. "Klar empfinden manche das als Eingriff in die pädagogische Freiheit", sagt er, "aber die Kollegen müssen lernen, im Team zu arbeiten. Meistens freuen sie sich über meine Vorschläge."

2012 ziehen Abiturienten in das neue Schulhaus

Das Konzept geht auf: Im letzten Jahr haben laut Akin alle die Realschulprüfungen bestanden, 14 der 17 Absolventen besuchen eine weiterführende Schule. Im kommenden Jahr soll der erste Jahrgang das Abitur machen.

Akin hätte sich früher selbst so eine Schule gewünscht. Nachdem er in einer Kleinstadt an der türkischen Schwarzmeerküste gerade Rechnen und Schreiben gelernt hatte, folgte er seinem Vater nach Stuttgart. Der hatte Arbeit in einer Fabrik gefunden. Der kleine Muammer fand ein fremdes Land vor, das er genauso wenig verstand wie die Sprache. "Ich habe mich anfangs oft gefragt, ob ich weniger wert bin."
Nach dem Hauptschulabschluss und einer Ausbildung bei Bosch machte er das Abitur nach, studierte Pädagogik und trat in die CDU ein. "Vielleicht, weil es in der CDU am meisten zu verändern gibt." Die Stadt berief ihn als "sachkundiges Mitglied" in den Ausländerausschuss des Gemeinderats. Dort lernte er Herrn Ehringer kennen, den er jetzt Manno nennt, zusammen bauten sie das Bildungshaus auf. Drei Jahre lang finanzierten sie es mit privaten Spenden, dann kamen die ersten Zuschüsse vom Staat.

Akin redet mit der Vorsicht eines Seiltänzers

Ehringer wurde viel kritisiert: Verräter, Errichter einer Parallelgesellschaft - das waren noch die netteren Kommentare. Immer wieder gab es Gerüchte, die Schule sei versteckt islamistisch, unterstützt von Geld aus dem Ausland. Genährt werden die Vorwürfe durch Akins offene Wertschätzung für den Prediger Fethullah Gülen. Manche sehen in Gülen einen Fundamentalisten, andere einen Aufklärer, der den Islam zur Moderne hin geöffnet hat. "Mir gefällt Gülens Ansatz, in Bildung zu investieren", sagt Akin. Er selbst ist religiös, fordert seine Schüler aber auf, den Glauben der Eltern zu hinterfragen.

Wenn es um Religion geht, tanzt Akin auf dem Seil. Ein falscher Schritt, und er zappelt im Netz derer, die ihm Islamismus vorwerfen. Ähnlich ist es mit dem Sprachunterricht. "Vielleicht bieten wir irgendwann eine Türkisch-AG" an, sagt er vorsichtig. Er muss wieder lernen, Selbstverständliches zu fordern.
Im Gegensatz zur Realschule ist das Gymnasium noch nicht anerkannt, weshalb die ersten Abiturienten an einer anderen Schule geprüft werden. "Bisher lag es am Lehrermangel", sagt ein Sprecher des Regierungspräsidiums Stuttgart. "Viele Schulen haben dieses Problem, das 'Bil' ist auf dem richtigen Weg."

Akin glaubt, er habe inzwischen genügend Personal eingestellt. Vor seiner Baustelle blickt er zufrieden auf den Bagger, dessen Schaufel gerade ein paar Zentner Erde aus dem Boden reißt. Langsam hebt er sein iPhone, die Kamera folgt dem Auge. "Nächsten Sommer kommen die Schüler", sagt er zufrieden und drückt ab.