Montag, 5. September 2011

Die fromme Elite der Türkei

Fethullah Gülen – ein islamischer Prediger von Toleranz und Liebe sorgt für Kontroversen

In der Türkei setzt sich eine neue Elite durch, für die islamische Frömmigkeit und Bekenntnis zur Moderne keinen Widerspruch bedeuten. Die geistige Orientierung liefert Fethullah Gülen, dessen Bewegung aber auch für Kontroversen sorgt.

Thomas Fuster, Istanbul
Für die Schüler der Anafen-Schule im Istanbuler Stadtteil Ümraniye steht viel auf dem Spiel. Bei der landesweiten Wissenschafts-Olympiade, die in wenigen Wochen ansteht, gilt es zahlreiche Titel zu verteidigen. Entsprechend konzentriert wird im Labor gearbeitet. Der Ruf der Privatschule ist ausgezeichnet. Regelmässig glänzt die 550 Schüler und Schülerinnen zählende Bildungsinstitution in nationalen Vergleichen mit hervorragenden Leistungen, nicht nur in wissenschaftlichen oder musischen Fächern. Stolz sind die in sportlich-legeren Uniformen gekleideten Schüler auch auf den Sieg bei der nationalen Schülermeisterschaft im Tischtennis.

Weltoffener Islam


Im Büro des Schuldirektors stapeln sich die Auszeichnungen und Pokale. Und dies, obwohl die Schule, die es bezüglich moderner Infrastruktur mit jeder westeuropäischen Privatschule aufnehmen kann, erst seit fünf Jahren existiert. Die schulischen Erfolge seien natürlich ein wichtiger Grund dafür, so der Direktor, dass trotz hohen jährlichen Schulgeldern von 9000 Euro weit mehr Kinder angemeldet würden, als man angesichts der Klassengrössen von maximal 25 Schülern aufnehmen könne. Doch wichtiger als schulischer Erfolg sei die Vermittlung ethischer Werte. «Wir wollen jedes Kind zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft machen. Wir sind ein Gewächshaus, das Tradition, Kultur und Glaubeen pflegt.» Dass diese Werte im Islam wurzeln, verheimlicht der Schuldirektor nicht.
Die Anafen-Schule ist eine vom Gedankengut Fethullah Gülens inspirierte Schule. Der aus der osttürkischen Provinz Erzurum stammende Prediger und Buchautor lebt zwar seit 1998 in den USA, in Pennsylvania. Gleichwohl ist er eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Türkei. Wenn der bescheiden und zurückgezogen lebende Imam, der kaum je ein Interview gibt, ab und zu seine Meinung zu gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Heimat kundtut, steht dies in hiesigen Blättern stets an prominenter Stelle. Das Wort des 70-Jährigen hat Gewicht. Und es multipliziert sich millionenfach, über die nach seinem Namen benannte Bewegung und über die Schulen, die sich seinem Gedankengut verpflichtet fühlen.
Gülen steht für eine fortschrittliche Lesart des Islam. Von einem Widerspruch zwischen Moderne und islamischem Glauben, wie er in der Türkei von strammen Säkularisten bisweilen konstruiert wird, will er ebenso wenig wissen wie von der These eines «Kampfs der Kulturen». Seine vom Sufismus und Mystizismus geprägten Ideen propagieren einen auf humanistischen Idealen basierenden Glauben. Im Zentrum stehen Liebe und Toleranz, der interreligiöse Dialog, der freiwillige Dienst an der Gemeinschaft, die Philanthropie und vor allem die Bildung. Diese Überzeugungen begann Gülen ab den späten sechziger Jahren als Imam in der westtürkischen Stadt Izmir zu verbreiten, seither wächst die Anhängerschaft stetig.

Keine Hierarchie


Wer in den über 60 Büchern von Gülen blättert und darin vor allem Appelle zu Solidarität, Frieden und – protestantisch anmutende – Strebsamkeit findet, kann den Streit um den sensiblen Geistlichen, der bei Reden oft in Tränen ausbricht, kaum verstehen. Doch in kemalistischen Kreisen traut man dem Gelehrten, der sich auch für mehr Demokratie, Marktwirtschaft, den Minderheitenschutz und einen EU-Beitritt der Türkei einsetzt, nicht über den Weg. Was gegen aussen harmonisch wirke, sei gegen innen weit machtbewusster und missionarischer. Wie eine geheime Sekte, so der Verdacht, versuche man leise und konspirativ eigene Vertreter in wichtige Ämter zu hieven und so letztlich die Kontrolle über den Staat zu übernehmen.
Mit diesem Vorwurf sieht sich Gülen seit vielen Jahren konfrontiert. Die Ausreise in die USA erfolgte denn auch nicht nur aus gesundheitlichen Gründen, wie es in der offiziellen Biografie des herz- und zuckerkranken Predigers heisst, sondern auch unter politischem Druck. Als nämlich die Armee – in der Türkei traditionell eine Verfechterin einer streng laizistischen Staatsordnung – 1997 den Regierungschef Erbakan wegen dessen islamistischer Gesinnung zum Rücktritt zwang, wurde auch für Gülen die Luft dünner. Noch ehe 1999 ein geheim aufgenommenes Video, auf dem der Gelehrte seine Anhänger zur Mithilfe beim Umbau des Staates aufruft, öffentlich ausgestrahlt wurde, setzte sich Gülen in die USA ab.
Das Video – laut Gülen sinnentstellend zusammengeschnitten – hätte im politischen Klima der späten neunziger Jahre zweifellos eine Verhaftung wegen staatsfeindlicher Aktivitäten zur Folge gehabt. Es wird von Kritikern bis heute als Beweis für die «geheime Agenda» der Bewegung zitiert. Das Misstrauen fusst aber auch auf dem informellen und schwer fassbaren Netzwerk des Vielgescholtenen. Denn was gemeinhin als Gülen-Bewegung – Anhänger bevorzugen den Begriff Hizmet (auf Deutsch: Dienst) – bezeichnet wird, entbehrt jeder hierarchischen Struktur. Weder ein offizieller Name noch eine Adresse oder ein Sekretariat existieren. Was das Netz zusammenhält, bleibt dem Aussenstehenden rätselhaft. Kritiker ziehen mitunter Vergleiche mit der katholischen Organisation Opus Dei.

Über tausend Schulen


Die einzige Adresse, bei der man auf der Suche nach Informationen aus erster Hand anklopfen kann, ist jene der Journalists and Writers Foundation (GYV). Die Stiftung wurde 1994 von Gülen mitgegründet, er amtiert als ihr Ehrenpräsident. Sie gilt als eigentliche Repräsentanz der Bewegung; kann beispielsweise Gülen eine Ehrung nicht persönlich empfangen, wird sie von Vertretern der Stiftung entgegengenommen. Der Sitz liegt im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, auf der asiatischen Seite der Metropole. Weitere Niederlassungen gibt es keine, weder in der Türkei noch im Ausland, obwohl sich die Bewegung längst über die Türkei hinaus auf alle Kontinente ausgebreitet hat.
Ahmet Muharrem Atlig arbeitet seit drei Jahren bei der GYV. Zur Grösse der Gülen-Bewegung kann aber auch der 40-jährige Theologe nichts Genaues sagen. Es gebe in 130 Ländern Schulen, die von Gülen inspiriert seien; weltweit seien es über 1000. Eine direkte Beziehung zwischen diesen autonom organisierten Schulen bestehe aber keine, auch keine Dachorganisation. Zur Zahl der Anhänger könne man nur spekulieren. Vor zwei Jahren habe aber eine Umfrage gezeigt, dass drei von vier Türken die Arbeit Gülens begrüssten. Seine Bücher seien daher Bestseller.
Für die Stiftung ist dies nicht unwesentlich; sie finanziert ihre Ausgaben angeblich zur Hälfte aus den Buchverkäufen, zur anderen Hälfte aus Spenden. Atlig ist Absolvent einer Imam-Hatip-Schule, einer staatlichen Ausbildungsstätte für Vorbeter, wie sie auch Ministerpräsident Erdogan besuchte. Während einiger Jahre arbeitete er als Imam in London, aufgrund eines Ratschlags von Gülen, der ihm bei einer persönlichen Unterredung empfohlen habe, andere Länder und Religionen kennenzulernen. Seit seiner Rückkehr kümmert sich der Theologe bei der Stiftung um Projekte des interreligiösen Dialogs. Die Türkei habe viel von ihrem früheren Reichtum verloren, klagt Atlig. Früher hätten hier zahlreiche Christen, Juden und Vertreter anderer Glaubensrichtungen zusammengelebt. Heute sei dies anders, und viele Türken hätten nur noch geringe Kenntnisse über andere Religionen.

Ein Brückenbauer


Dem interreligiösen Dialog misst Gülen seit Jahrzehnten grosse Bedeutung bei. 1998 wurde er von Papst Johannes Paul II. zu einer persönlichen Audienz geladen. Auch mit den Führern der orthodoxen Christen oder Juden pflegt der türkische Intellektuelle, der die Terroranschläge vom 11. September 2001 in amerikanischen Zeitungsinseraten verurteilte, enge Kontakte. In der Türkei, wo Verschwörungstheorien besonders üppig spriessen, schafft ihm dies nicht nur Freunde.
Wird Gülen von extremen Säkularisten als Islamist und Verbündeter der Kaida beschimpft, bezeichnen ihn fundamentalistische Islamisten als einen geheimen Kardinal des Vatikans oder einen Agenten der USA, dessen Auftrag es sei, die Islamisten zu zähmen. Wenn jemand von beiden Extremen des religiösen Spektrum gleichermassen abgelehnt wird, bewegt er sich möglicherweise auf dem Mittelweg eines moderaten Islams. Zu dieser Vermutung passt die Beobachtung, dass in den Büroräumlichkeiten der GYV neben Frauen mit Kopftuch auch solche ohne dieses Stück Stoff, das in der Türkei für Polemiken sorgt, arbeiten. Gülen vertritt in dieser, aber auch in andern konkreten Lebensfragen eine pragmatische Haltung. Wer sich zwischen dem Kopftuch und einer guten Ausbildung entscheiden müsse, da mit Kopftuch der Zugang zur Universität verboten sei, solle sich für die Bildung entscheiden.
Solcher Pragmatismus ändert wenig daran, dass sich der Streit um die Anhänger Gülens, die Fethullahcis, jüngst verschärft hat. Den Anlass dazu bildete dieses Frühjahr die Verhaftung des Journalisten Ahmet Sik im Rahmen des Ergenekon-Prozesses. Da die dem Journalisten vorgeworfene Verwicklung in Umsturzpläne gegen die Regierung eher absurd anmutet, zeigen sich Regierungskritiker, die enge Beziehungen zwischen den Fethullahcis und Erdogans regierender AKP vermuten, überzeugt, dass ein von Sik geplantes Buch, das sich kritisch mit der Gülen-Bewegung auseinandersetzt, für die Verhaftung verantwortlich war. In seinem Buch «Die Armee des Imam» stellt Sik die These auf, dass die türkische Polizei durch Vertreter Gülens unterwandert sei und diese frommen Sicherheitskräfte daran seien, quasi einen Staat im Staat zu errichten.

Kritik am Säkularismus


Ümit Göker vom Forschungszentrum der GYV kennt diese Anschuldigungen bestens. Gülen mache es niemandem recht; den einen sei er zu sehr religiös, den andern zu wenig, den einen zu stark nationalistisch, den andern zu wenig. Hinter den ewiggleichen Verdächtigungen stehe letztlich eine Staatsideologie, die Religion per se als Bedrohung wahrnehme. Leider kenne die Türkei keinen passiven Säkularismus wie die USA, also eine strikte Trennung von Staat und Religion. Die türkische Interpretation des Säkularismus sei vielmehr, dass der Staat eine strenge Kontrolle über die Religion ausübe. «Wir entscheiden, was gut ist für das Volk», laute dieses undemokratische Konzept, bei dem der Republiksgründer Atatürk stets als Kronzeuge missbraucht werde.
Gülen habe den Leuten die Augen geöffnet für dieses schiefe Verständnis von Säkularismus und sie für die Anliegen einer Bürgergesellschaft sensibilisiert, sagt Göker. Wenn jedoch eine aufstrebende Mittelschicht plötzlich ihre demokratischen Rechte einfordere und der Zugang zu guter Ausbildung nicht länger das Privileg einer schmalen Oberschicht sei, dann mache dies die alte staatliche Elite nervös. «In der offiziellen Türkei wurde Religiosität während Jahrzehnten mit Rückständigkeit gleichgesetzt.» Gülen jedoch fordere seine Anhänger zu Fleiss, stetem Lernen und guter Ausbildung auf. Er betone, dass Glaube und Wissenschaft nicht nur kompatibel, sondern auch komplementär seien.
Nicht nur in den Gülen-Schulen lebt man diesem Credo nach. Auch Spitäler, Banken, Versicherungen, Unternehmerverbände oder Medienkonzerne gehören längst zum Netzwerk Gülens. Oft bleibt die Nähe dieser Organisationen zu Gülens Gedankengut verborgen, so auch in der Anafen-Schule. Eine Foto des Predigers sucht man vergeblich in den Klassenräumen, auf dem Stundenplan fehlen religiöse Fächer, und Mädchen und Knaben werden gemeinsam unterrichtet. Die Privatschule hält sich strikt an das staatliche Curriculum, und dieses verbietet religiösen Unterricht. Was ist unter diesen Umständen anders? Die Hingabe der Lehrer, sagt der Direktor. Hier arbeite niemand nur wegen des Lohns, man habe höhere Ziele. Man treffe sich daher auch in der Freizeit mit den Schülern und Eltern. Das schaffe ein Verbindung, die über die Schulzeit hinaus bestehen bleibe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen